Das Ludwigsburg-Syndrom

In einer Einführung zu seiner Psychoanalyse schreibt Sigmund Freud, ziemlich genau vor 100 Jahren, „dass Triebregungen, welche man nur als sexuelle im engeren und weiteren Sinn bezeichnen kann, die Ursachen für Nerven-und Geisteskrankheiten seien, und dass dieselben sexuellen Regungen an den höchsten kulturellen, künstlerischen und sozialen Schöpfungen beteiligt seien. Unter diesen Triebkräften spielen die Sexualregungen eine bedeutsame Rolle; sie werden dabei sublimiert, d.h. von ihren sexuellen Zielen abgelenkt und auf sozial höherstehende, nicht mehr sexuelle, gerichtet.“ (frei zitiert, gwm)
Für diese Zeilen ist Freud heftig kritisiert worden, auch wenn der seltsame Umstand unmittelbar nach dem I.WK eintrat, dass sich Literatur und Kunst mit Dada und Surrealismus tief in die Psychoanalyse beugte.
Weniger geschmeidig zeigt sich damals wie heute die „Geistigkeit“ jenseits von Philosophie und Literatur: nicht mehr der Mittelpunkt der Welt sein, seit Galilei; nun mit Freud nicht einmal mehr Herr im eigenen Haus zu sein, ja „Gottprojektion“ auf sexuelles Triebleben zurückführen, das noch im Unbewussten ein von Verstand und Vernunft unabhängiges Eigenleben führt.
Das Entsetzen darüber wurde durch zwei Weltkriege und dem Aufmarsch der Nazi-Barbaren in Deutschland verdrängt.
Ich weiß nicht, ob heute jemals eine solche Aufarbeitung stattgefunden hat. Aber sicher scheint mir, dass die Gläubigen des einen Katechismus rasch auf die Seite des wissenschaftlichen Katechismus gewechselt sind und eine Vergessenheit eingesetzt hat, die wieder über die Hintertreppe in einem Vergangenheitswahn besonders in der „klassischen Musik“ ihren Grund gefunden hat.
Man sehe sich die Kirchen in Deutschland an: De-mentia = Entgeisterung, ein Heer Dementer singt geistlose Lieder. Über ihnen hängt die dunkelschwarz gefärbte Wolke des absoluten Nichts, aufgeblasen von technischen Orgelwerken, die in ihrer Geistlosigkeit in nichts dem Liedgut nachstehen.
Am nagelneuen Spieltisch der anteECO-Orgel vom Ehrgeiz zerfressene Organisten, die es geschafft haben eine Million in die Kirchenmusik reinzubuttern. Die ihr Vergessen darin üben, irgendwelche belanglosen Prelude-und Fugen-Varianten zu perfektionieren, die keiner mehr hören will. Die Orgel gespendet von reichen Leutchen, die damit etwas Seelenruhe erkauft haben. Man weiß ja nie.
Es fällt schwer zu glauben, dass hinter solchen Zuständen kein „freudsches Triebleben“ stecken soll, sondern noch ein Gran bewusst gesteuerte, geistige Frische, welche die Welt braucht in der heutigen Zeit. Wo doch klar sein soll, dass morgen um jedes Wasserloch gekämpft werden wird und am Tag zuvor in den Kirchen noch der Luxus gefeiert wird.
Das System des Ludwigsburger Syndroms, das eine vielschichtige Krankheit darstellt, mit unterschiedlichen Symptomen, ist etwas, das zumindest aufgedeckt werden muss.
Weil, wie wir sehen werden, daraus rasch eine Ludwigsburger-Syndrom-Schule entsteht, die kurioserweise noch mit der Oscar-Walcker-Schule unter einer Decke steckt.
Ob man damit etwas erreicht, sei dahingestellt. Sicher ist jedenfalls, dass nicht nur in Baden-Württemberg die Seuche bereits wütet und wir mit raschem Wachstum rechnen können.
Es ist eine Krankheit, die strategisch vorgeht:
a) Wartungsstau herbeiführen
b) selbst ein paar Stellen flicken und dem Kirchenvorstand solche exemplarische Mängel zeigen.
c) Schulklassen in die verkommene Orgel führen und schimpfen lassen.
d) Orgelbauer, denen das Maul mit einem Neubau wässrig gemacht wird, werden zum Orgelzustand befragt.
e) Wenn die Mangelsituation nun entsprechenden Anklang gefunden hat, kommt der entscheidende Schritt: die Zeitung muss her, ein möglichst einfältiger Reporter, dem man die Fragen auf die Zunge legt, hat entsprechenden Artikel zu drucken.
Nun kann man scharf mit dem Vorläuferinstrument ins Gericht fahren und gefahrlos Ross und Reiter benennen. Punktum
Mit Gegnerschaft hat man nicht zu rechnen, wenngleich die offensichtliche aber versteckt gehaltene Unwahrheit, die solche Projekte begleiten, nie offen attackiert wird. Es findet ja in der Kirche statt, wo doch heutzutage sowieso kaum noch „Wahrheit“ erwartet wird und die „Dementia“ wahre Feste feiert.
Nun, da ein exemplarischer Fall in der Ludwigsburger Stadtkirche stattgefunden hat, habe ich das gesellschaftliche Phänomen mit „Ludwigsburger Syndrom“ benannt.
Hier wurde ein Sammelsurium von Münchhausen zusammengeschnürt und selbst noch nach Abschluss der neuen Orgel auf die Vorgängerfirma abgelassen, wie man es sich bei einem gesunden Menschenverstand kaum vorstellen konnte. Letzte Reste an christlicher Moral wurden fahren gelassen. Vornehmheit und Größe schrumpelten zu mickriger Kleinheit zusammen.
Auffällig ist nun, dass Organisten, die es geschafft haben über die Wahrheit zu triumphieren, regelrechte Beratungen ihren Kollegen angedeihen lassen, wie solche Syndrome ihre größtmögliche Wirkungen auszustrahlen haben.
So geschehen in der Vaihinger Stadtkirche, wo der Organist alle Spielregeln des Ludwigsburger Syndroms fast exakt einhielt. Ihm unterlief allerdings der Fehler, 12 Jahre vorher, nach einer Generalüberholung seiner Orgel, in höchster Verzückung dieses Instrument zu verklären.
Da werden sicher noch der eine oder andere Frosch quacken. Aber der Gang der Geschichte wird sich nicht aufhalten lassen. Die Maniaks bleiben Eiferer bis zur neuen Orgel, wo sie dann nieder knien als Imbeziller in weihevoller Andacht. Oedipales grausiges Schicksal derer, die nicht hören wollen. Taubsein ist auch ein Schicksal.
Die Lügen die so in den baden-württembergischen Kirchen herumspaziert, als sei sie endlich hier heimisch geworden, wir werden es nicht mehr erleben, das sich eine der Kirchen entfernende Gesellschaft darum nochmal kümmern wird. Vielleicht werden noch ein paar verlorene Muslime oder Chinesen die neuen Wunderwerke Orgel fotografieren, hören, das heißt doch „Geist erfahren“, will sie keiner mehr.
Bei Einweihung einer neuen Orgel in der Nähe Hannovers, so wurde mir gesagt, waren gerade mal noch sieben Kirchgänger anwesend. De-mentia eben.
Meine Klagen gegen die Zeitungen, die solche Projekte mit all ihrer banalen Dummheit aufpuschten, derer die Württemberger fähig sind, und die sie mit offensichtlich falschen Daten unterfüttert haben, wurden abgewiesen.
Einerseits, weil es Meinungsäußerungen von Organisten waren – also diese Leute dürfen öffentlich die Unwahrheit sagen. Dafür kann die Zeitung ja nichts. Hier müsste man mit Unterlassungsklagen weiter arbeiten, so ein Anwalt. Aber bin ich ein Klageweib, an einer Klagemauer? Euer schlechtes Gewissen und der Biss dazu ist mir Genugtuung genug.
Andererseits will ein Richter gegen die Stuttgarter Zeitung, mit der er jeden Morgen sein Frühstück garniert, keine solche Klage beim Landesgericht in Stuttgart zulassen. Denn da stehn ja nur knallharte Fakten drin. Ein Prosit auf die Justiz.
Das aufkommende Desinteresse des Geistes an sich selbst gebietet den Blick auf das Alte, wo noch Geist, Schwung, Frische war.
Mir wird es ungeheuer, wenn man das Alte nur noch mit dem Uralten gleichsetzt.
Und wenn niemand mehr komponiert, wenn so alles verklingt,
und das uralte Lied durch die
hohlen Schädel der
De-mentia
hallt…

….es tut so weh!
gewalcker@t-online.

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