Im Jahre 1739 veröffentlichte Johann Sebastian Bach Choralbearbeitungen, darunter Präludium und Fuge in Es-Dur, deren beide Teilstücke für mehrmanualige Orgel mit Pedal zur Ausführung bestimmt waren.
Der Notenstecher Balthasar Schmidt fertige das Druckwerk. Weltweit werden wohl hunderttausende von Druckexemplaren mit dieser Musik heutzutage im Einsatz sein. Sicher ist auch, dass seit dem Jahr 1739 Millionen von Interpretationen dieser Stücke in verschiedensten Qualitäten Hörer aller Arten erfreut haben.
Und nun zum Problem.
Hört man sich eine Interpretation dieses Präludiums und der Fuge an, so wird man rasch einig werden, dass diese Interpretation eine Art Stellvertreterfunktion für diese komponierte Musik einnimmt, aber nicht das Musikstück selbst darstellt. Das Musikstück würde auch in diesem Fall nur für die Dauer der Interpretation vorhanden sein. Noch weniger wird man die bedruckten Notenblätter heranziehen, um zu dem scheinbar objektiv vorhandenem Musikstück vorzudringen, denn die materialisierte Musik klingt nicht.
Auch der Umstand, wenn man alles Druckwerk vernichten würde, so wäre die Musik immer noch da, und sei es nur im Hinterkopf eines gelehrigen Organisten.
Würde man allerdings alle Menschenschädel einschlagen, ein Beispiel Schopenhauers, was heute schneller passieren kann als 1739, so wäre das Orgelstück für alle Zeiten verloren, außer es gibt das Absolute, das alles Geistige bewahrt, von dem allerdings nur Hegel etwas wissen konnte.
Wo also befindet sich dieses Werk? Klar ist, das Werk ist eine Abstraktion, die ohne Menschen nie zur Erscheinung treten kann. Klar ist aber auch, dass sowohl Zeit wie Raum unnötig sind, um dieses Orgelstück bewahrend am Leben zu halten. Und in diesem Moment betreten wir die heiligen Hallen der Metaphysik.
Der Begriff „Metaphysik“ stammt von Aristoteles, der unter „physis“ das von sich selbst Aufgehende, das sich Eröffnende, Entfaltende, das in Erscheinung tretende, verstand, ein ganz wichtiger Begriff aus der antiken Philosophie, und angereichert mit „meta“, über etwas weg, hinüber…, nun einen Superbegriff schaffte, der ursprünglich alle Philosophie umklammern sollte.
Es gibt zwei hochinteressante Bücher zum Thema. Einmal Theodor W. Adorno „Metaphysik“, sein einziges Buch, das man tatsächlich ohne Philosophiestudium lesen kann. Das aus Vorlesungen im Sommersemester 1965 entstand und das Ringen des Professors um das Verständnis der Aristotelischen Vorstellung zwischen Form und Stoff (Idee und Materie) offenbart. Auch unbedeutende Nebensätze zeigen uns, wie Adorno in die Tiefe des Aristotelischen Verständnisses und Zusammenhangs eindringt und immer wieder auch auf Gefahren der falschen Interpretation hinweist.
Hier bei unserem Musikstück, das sich nirgendwo aufhält, aber als Form omnipräsent ist und nur den Stoff braucht (die Noten, die Orgel und den Interpreten) um realisiert zu werden, und dabei von Adorno an die Hand genommen zu werden, zum Beispiel, wie Aristoteles die Beziehung zwischen Stoff und Form sich dachte. Das, so denke ich, ist ein schöner Spaziergang, der uns über Metaphysik viel sagen kann.
Ganz anders, aber fast wie ein Kriminalroman lesbar ist Martin Heideggers „Metaphysik“, 1935 in Freiburg gelesen, 1957 überarbeitet und gedruckt. Nun Heidegger ist uns heute mit seinen „Schwarzen Heften“ nicht mehr so sympathisch, aber man kommt ohne ihn kaum aus.
Ohne ein altgriechisches Wörterbuch ist seine „Metaphysik“ kaum verständlich. Obwohl Heidegger immer wieder ausführlich auf die altgriechische Sprache eingeht. Heidegger ist ein Sprachgenie. Man muss sich ganz mit ihm beschäftigen, man muss in seiner Sprache Platz nehmen und sich immer wieder vergewissern, was ist das?, was er da sagt. Fragen ist Philosophieren, so beginnt das Buch. Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?
Und auch da sind wir wieder bei der Musik. Warum gibt es eine komplette Oper und wo ist sie, wenn gerade keine Interpretation von dieser Oper aufgeführt wird.
Haben doch die Realisten im Universalienstreit recht gehabt, dass es hinter der realen Welt noch eine weitere gibt, wo all diese Ideen aufbewahrt liegen. Was ein Metaphysiker ganz entschieden mit „diese Hinterweltler“ bestritten hat, nämlich Friedrich Nietzsche.
Aber wo sind sie dann, diese Baupläne, Ideensammlungen, Kompositionen, die in allen Lebenden vorhandenen Schicksale und Fügungen, die die alten Griechen vom Mythos bis zum Logos verfolgt haben.
Kein Zweifel gibt es, dass seit Platon und Aristoteles, beide haben zwar unterschiedliche Auffassungen über Idee und Materie oder Stoff und Form, diese Metaphysik sich zur abendländischen Grundvorstellung entwickelt hat und heute noch unsere Alltagsvorstellung repräsentiert.
Mag sein, dass wir mehr und mehr zu Materialisten werden, die immer irgendwie ein Stück Stoff oder Materie brauchen, um zu glauben.
Aber wo zum Teufel ist die Musik?
gwm
zu Adorno „Metaphysik“
Wie bei der Metaphysik des Aristoteles alle Gedanken auf den „unbewegten Beweger“ hinführen, so deutet bei den Gedankengängen Adornos alles auf „Auschwitz“. Und das ist die Aufhebung aller Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz. Nicht aber ist dies ein letzter verzweifelter Aufschrei, sondern es ist die Mahnung zur „Infragestellung“ aller Philosophie. Und mit diesem „Wirf weg!“ und dem Infragestellen taucht bei Adorno ebenfalls wie bei Heidegger (am Anfang seiner Metaphysik) das Motiv auf in die Tiefe zu gehen. Eben das geht nur über die Frage.