Faust, die Bachsche Fuge, der unendliche Rausch…

Das wär antik! Ich wüßt es nicht zu preisen!
Es sollte plump und überlästig heißen.
Roh nennt man edel, unbehülflich groß.
Schmalpfeiler lieb ich, strebend, grenzenlos;
spitzbögiger Zenit erhebt den Geist;
solch ein Gebäu erbaut uns allermeist. (Architekt)
Goethe, Faust 2, 1, Rittersaal

Johann Sebastian Bachs Fugen, das sind die gotischen Kathedralen der Zeitlosigkeit. Die in eisige Höhen hinauf-gefrorene geistige Räumlichkeit.
Zeitlos, weil sie nie mehr vergehen. Zeitlos aber auch, weil sie sich mit der Unendlichkeit des Raumes und der Zeit verwoben haben.
Unser Rückblick auf die Gotik ist mit einem mitleidendem Blick unterlegt, der um das Wissen dieser Bachschen Fugen-Gotik weiß, und das daher die Menschen der Gotik und ihres steinernen Bauens bedauern.
Den strahlende Silberglanz ihres plastischen Schaffens setzte Johann Sebastian Bach mit Präludium und Fuge A-Moll BWV543 auf jene faustische Gotik, deren primäres Ziel war den Himmel nicht mehr anzubeten, sondern ihn zu erstürmen.
Nach dem Erschallen dieser Musik konnte nicht mehr gebaut und gemalt werden, wie bisher. Alle Kunst floh nun in die Musik. Alle Kunst wurde nun wie von einer wilden Töpferscheibe mitgeschleudert in deren Mittelpunkt sich die Fuge nach oben ins Himmelreich zentrierte.
Bachs Fuge und der gotische Raum sind Implemente. Die Vertikale der Gotik entsprach der Polyphonie Bachs. Von uns aus gesehen bedingen sie sich gegenseitig.
Das Aufbrechen aller Raum- und Zeitempfindung in der Fuge, das, was dem antiken Menschen im Bilde der Ataraxia (was wohl unvollkommen mit Seelenruhe übersetzt werden kann) und das der unruhige, nun nervöse, von Tobsuchtsanfällen und Gier übermannte Faust nie in der abendländischen Kultur finden konnte, sah er nun in einem gläsernen, glitzernden Universum aus geschichteten Klang-und Tonschöpfungen, bei denen er die Augen schließen und so Gott sehen durfte. Alle Architektur von Renaissance, Barock und Rokoko führte zur Bachschen Fuge, war vollendete Gotik.
Jetzo leuchteten seine Augen auf, im Anblick der gläsernen, unendlichen gotischen Kathedralen die alle bekannten Dimensionen sprengten. Mit einem Schlag waren durch Bachs Fugen alle Philosophien im Kräftezentrum, im Auge des Zyklons vereint.
Und alle anderen Wahrheiten, ob wahr oder falsch, wurden durch diesen Zyklonen hinweg geschleudert, vernichtet, zerschmettert. An allen Wänden, welche noch standen, vor der französischen Revolution, klebte das Blut der vernichteten Kulturen außerhalb der Gotik.

Nur noch ein Wort Kants, der daran 30 Jahre arbeitete, war notwendig, all dem was Bach sagte, den Begriff zu reichen: „nicht der Raum, nicht die Zeit soll letzte Autorität, letzter Maßstab sein, für dich „Faust“, sondern die Vernunft!
„0 schmücke dich, o liebe Seele“, mit dem Bach dem abendländischen Faust (und damit sich selbst) die musikalische Plastik der Antike reichte, eine nordische Ataraxia, eine Ataraxia für Stunden in heutiger Zeit, gab er uns einen Geschmack von Antike, eine Perspektive davon.
Doch mit der Berührung des Himmels erlosch dessen magische Faszination.
Für Faust nun, stellte sich eine grausame Wahrheit ein, er war nicht gottesdürstig genug, seine Gottesfurcht erlosch.
Faust, der dem Satan die Wiege gehalten hatte, weil er „Tiefe“ suchte und in dieser „Teufe“ (althdtsch) er den Teufel fand, war mit der Erschaffung der gläsern-singenden Gotteskathedralen die nur im Klang geschaut werden konnten, mit einem Gott der nur noch prismatisch durch die Glasschichten der Fuge gesehen werden konnte, er war nicht ans Ziel gelangt. Der „musikalische Gottesbeweis“ wurde zerredet, zerklüftete sich an Galanterie und Oberfläche.

War die Fuge nur ein Mittel Gott zu schauen, nicht Gott selbst, nicht Raum und Zeit selbst? Wo, so Faustens bange Frage, war dann Gott?
Denn Fausten war klar, im Gegensatz zum antiken und ägyptischen Menschen — in seiner Seele konnte Gott nicht sein!
War seine Fuge Trauma oder Rausch?
Thomas Manns „Faust“, Friedrich Nietzsche, spaltete den Gegensatz von Traum und Rausch in zwei antike Brüder auf: Apollon und Dionysos. Und jener Faust unterlegte allem Kunstschaffen, und damit auch dem Schaffen Bachs und seiner Fuge, den Rausch. Das Bildwerk braucht den Tag, Apollo – die Musik, die Nacht, braucht Dionysos. Die Romantik flüchtete sich in diesen Analysen in Psychologie und Physiologie, den letzten Wissensresten, welche die Naturwissenschaften der Philosophie gelassen hat. Die Liebe ist für Nietzsche der höchste Rausch: um Gott zu lieben, müssen wir ihn personifizieren. Aber das Christentum gab dem Eros Gift zu trinken: er starb zwar nicht daran, aber er entartete zum Laster.

Faust ist nunmehr ohne Rausch undenkbar. Das Hören der Fuge, ohne den Anspruch berauscht zu werden, ist nicht mehr glaubhaft.
„Erheben“, „Erhabensein“, wendet sich in „Besessensein“, ist nunmehr Graduierung eines Rauschzustandes. Romantik letztendlich gipfelt in der Formel „hilflos besoffen im Gefühl“. Die Verklärung der Dinge geschieht nun unter heftigster Beschwörung des
Geschlechtstriebes, der zum Geschlechtsrausch führt, die Beschwörung der Grausamkeit, das Zelebrieren dunkelster Gefühle.
Faust der mit Bachschen Fuge Gott berührte, verfällt der Trunksucht: das Mehr an Kraft, das ihm die Fuge gab, gibt ihm die Gewissheit, dass alle Musik ihm nunmehr Machtzuwachs gewähren. Das Symbol des romantischen Organisten welcher an einer Riesenorgel einer gotischen Kathedrale, die Transfigurationskraft des Machtrausches ins Religiöse noch umzudeuten weiß, indem er das Gottverlangen der Gemeinde mit seiner Person verbindet: Organisten tauchen nun auf, mit Namen (und diese Talente werden damit numinos). Wohl der erste Name hier Abbe Vogler.
Jene faustische „Unendlichkeit im Busen“ gehört zum Rausch, als hohes Machtgefühl, sagt Nietzsche, das wird durch den „unendlich angehaltenen “ Ton der Orgel verstärkt, es ist der Resonanzboden der Ewigkeit.
Die Renaissance erschuf den schaffenden Künstler, die Spätgotik, in der Musik unsinnigerweise und negativ „Barock“ (man hätte es bei der Bezeichnung der Baukunst belassen sollen- ein Fehler des ausgehenden 19Jh) genannt, gab uns das Genie und damit Bach, die Romantik den Interpreten, den Priestermittler zwischen Gemeinde und Gott durch die Fuge.
Das Zeitalter der Romantik schuf die Rauschmittel unter dem die heutigen Zivilisationen am meisten leiden: „Wagner“ und das „Heroin“. Anders ausgedrückt „die Filmmusik“ und die „tägliche Dosis Television“. Der Abfall von der Fuge in seiner Gottesdirektheit ist Faust nicht bekommen, das erkannte er sehr wohl.
Nie hat Faust „Glück“ gesucht. Das vollkommene Missverständnis eines zu Grunde gegangenen Sozialismus zeigt uns das. Noch mehr die Zeit der Weltkrieg(e), die jedem beteiligtem Volke von vorneherein weniger Glück versprach, dafür aber mehr Rausch. Nationalismus, Rassismus, Orgelbewegung, Militarismus, Jugendschriftenbewegung, Wanderbewegung, – alles dies sind Zeichen, ja fast Symbole für Faustens dunkles Verlangen „Ja-Zusagen“, emporzustreben, das Numinose neben der Fuge zu suchen, nicht aber zu finden. Erstaunlich ist dabei, dass Faust die Berührung mit der Fuge, mit Bach, nie fahren lässt. Immer noch hält er Kontakt zu seinem Mittler, mit dem er einst das Höchste und Größte erfahren hat.

Unendlichkeitsstreben der faustischen Seelen leiten die Kraftströme um in technischen Gigantomismus, in Größenwahn, – auch ein Rausch, endet im Genozid.
Etwas, das wir nicht mehr weiter mit der Formel „Faust“ untersuchen dürfen, weil wir alle Quellen ins Fragwürdige verlegen würden. Alles was mit der Vernichtung des Jüdischen Volkes zusammenhängt, kann nur sittlich, nie ästhetisch hinterfragt werden.
Die Sehnsucht des faustischen Menschen, den wir auch als europäischen Menschen bezeichnen könnten, wären hier irgendwelche greifbaren Grenzen der Gegenwart oder der Zukunft zu benennen, ist aufgrund des technischen Kollapses der Gegenwart überhaupt nicht mehr möglich.
Oswald Spengler, dessen Faust ich hier neu nachzeichnete, der herausragende Kulturphilosoph der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts, hat in seiner Schrift „Der Untergang des Abendlandes“, den faustischen Menschen am Ende gewähnt. Einem Standpunkt, dem man sich als Zeitgenosse von Bill Gates, Andy Warhol und „pulp viction“ unbedingt anschließt.
Bach hat für Musiker geschrieben, und diese hören seine Musik noch heute – aber Faust, dieses unheimlich starke Symbol seit über 500 Jahren, für das das unergründliche Streben des Mitteleuropäers steht, dieser größte deutsche tragische Gedanke, dieser Faust ist nach Phasen der Dunkelheit, der Gottesansichtigkeit durch die Fugen Bachs und dann nach Phasen der Trunkenheit, eines heriditären Tremors und eines Ausfließens in beliebige Klatsch-und Lachspiele völlig verkümmert.
Unlängst las man in einer Orgelfachzeitschrift, die Bachschen Fugen seien nun schleunigst aus den Kirchen zu retten, wie bei einem Kirchenbrande: wenigstens „Bach“, wenn sonst auch alles in Flammen aufgeht. Dies erschien, als wollte man die Sexualität von „Herbert Heinz Günter Müller“ bewahren, indem man ihm seiner Sexualorgane beraubt – oder man tauscht Lieschen Maier-Kürschnaus‘ Schweisstuch gegen das Turiner des Herrn, um mit dem Schädel auf platten Boden aufzuschlagen.
Der Eine möchte in unerkannte Dimensionen vorstoßen, der Andere seinen klar bezeichneten drei Trieben Auslauf lassen, so wie man eben seinen Hund auf die Wiese springen lässt. Beiden gemeinsam ist nur der „angelsächsische Wille“ oder das „Glücklichsein der Herde auf der Weide“. Etwas, das der antike, der indische und chinesische Mensch vor der Globalisierung nicht kannte.
Diese vollkommen unfaustische, materialistische, unkünstlerische Akt „Dekorationen“ anstelle von Kunst zu bewahren, diese peinliche Dummheit, der Gedanke der Sicherung von Kulturelementen für das platte Anglotzen statt Schauen, wie vorhin genannt, und wie sie nur in kirchenmusikalischen Kreisen diskutiert werden können, ist bezeichnend für das Verschwinden der Idee des „Faust“ auf mitteleuropäischer Erde. Es bleibt, nicht darüber zu lamentieren, was eine Ästhetik wert sein soll, die von „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“ singt, aber nicht mehr an ihren Inhalt glaubt. Wieviel Oberfläche brauchen wir, um daran zu ersticken?
Die Idee des „Christentums“ wiederum ist ohne „Faust“ undenkbar. Faust aber ist, wie wir nun bemerken: unübersehbar tot.
(gwm)

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