Sokrates, treibe Musik! …

Dieser immer wiederkehrende Traum, die Stimme seines Dämonen, den der Philosoph in seinem Kerker erfuhr, veranlasste in der Tat den Sokrates „Musik zu treiben“. Er trieb metrische Übungen indem er prosaische Fabeln in Verse bannte. Ob er der Kunst dabei näher kam, wird bezweifelt.

Wir sehen also, dass der altgriechische Begriff der Musiké weitaus mehr als der in unserer Sprache abgeleitete Begriff der Musik beinhaltete. So war im mystischen Zeitalter der Antike in Musiké das All und die Seele zu einer Einheit verbunden woraus die sieben Künste des Mittelalters (Arithmetik, Geometrie, Harmonik, Astronomie, Grammatik, Rhetorik und Logik) entsprungen waren. (siehe hierzu „Johannes Lohmann – Musiké und Logos“, ein Buch das umfassend in die Entstehungsgeschichte von Mythos und Logos eintaucht und das bei mir nur gegen Bezahlung der Portokosten erhältlich ist, es sind noch 5 Exemplare da).

Meine Intention, diesen Blogartikel zu schreiben folgt allerdings nicht irgendwelchen philologischen Motiven, sondern es ist die Begeisterung die der Film „EDIPO RE“ von Pier Paolo Pasolini gepaart mit den Erläuterungen des Philologen Friedrich Nietzsche bei mir auslöste.
Der Mythos des König Ödipus dargestellt in der Tragödie des Sophokles, kann wohl als ein wichtiger Höhepunkt in der griechischen Klassik gewertet werden. Besonders wenn man Nietzsches Wertungen hinzuzieht.

Ich denke, wenn man diese griechische Tragödie und ihre Funktionen, aber auch ihren Verfall verstanden hat, versteht man auch unsere Zeit und die Entwicklung hierher besser: denn alles was wir hören und sehen, kommt von diesem Kultur-Urknall.

Bevor ich mit Nietzsche tiefer in dieses Gebiet eindringe, möchte ich noch kurz hinweisen, dass eine sehr gut verständliche Erläuterung von Aristoteles über die Tragödie am Ende seiner Metaphysik vorliegt. Es scheinen aber doch vereinzelte Übersetzungsprobleme durch den Text durch, sodass ich die Interpretationen von Nietzsche, in „Die Geburt der Tragödie“, und in den Vorträgen „Das griechische Musikdrama“ und „Socrates und die Tragödie“, für wesentlich wertvoller halte. (Übrigens den kompletten Nietzsche kann man als Ebook auf rund 14500 Seiten für 95Cent einkaufen, inclusive seiner Briefsammlung. Damit hat man in der Tat den kompletten Nietzsche, auch seine teilweise schwer zugängigen Vorträge um 1870)

Vergessen Sie aber alles, was in Wikipedia oder anderen aufgedröselten Bildungseinrichtungen über dieses Thema erzählt wird. Diese wunderfeinen Ziselierungen und dieser klassische Bau einer Tragödie, das verstehen diese Leute einfach nicht zu reflektieren, geschweige denn zu respektieren.

Nach Aristoteles sind wichtige Teile der Fabel: Peripetie und Wiedererkennungsszenen. (Peripetie: der Umschlag von Glück ins Unglück oder umgekehrt)
Dies übrigens sehr schön zu erkennen an dem einzigen Film, der es geschafft hat die ursprüngliche klassische Form zu bewahren und dabei mit archaischen Mitteln eine ungeheure Spannung des ganzen Geschehens zu erhalten: eben jener EDIPO RE, des Italieners Pasolini.

Nietzsche geht es bei seiner Analyse und Ansicht des klassischen Griechenland um den wunden Punkt, als der Mythos zum Logos sich wandelte. Hierfür fand Nietzsche die Formel: Dionysisch- Apollinisch, die im 19. und 20. Jahrhundert viel unter Philosophen diskutiert wurden. Vielleicht zuviel des Guten. Denn auch in Nietzsches eigenen Aussagen finden sich Widersprüchlichkeiten. In „Safranski – Nietzsche, Biografie seines Denkens“ fand ich hierzu folgende Erläuterung: Im ersten Vortrag war von der Herkunft der Tragödie aus den dionysischen Festen die Rede gewesen; und beim zweiten Vortrag hatte er von der apollinischen Klarheit des Sokrates gesprochen. Jetzt geht ihm (Nietzsche) auf, dass die Tragödie einen Kompromiss dieser beiden Grundtriebe darstellt. Die Leidenschaften und die Musik sind dionysisch, die Sprache und Dialektik auf der Bühne sind apollinisch – beides zusammen ergibt die bewußtseinshelle Darstellung dunkler Schicksalsmächte.

Das Wichtigste bei Theateraufführungen war für Nietzsche die trunkene Seele des Zuhörers. Das war kein faules, fatiguiertes allabendliches Abonnentenpublikum, das mit müden abgehetzten Sinnen zum Theater kommt, um sich hier in Emotionen versetzen zu lassen. Er hatte noch seine frischen morgendlichen, festlich angeregten Sinne bei sich, wenn er sich auf die Stufen des Theaters niederließ. Er schlürfte den Trank der Tragödie so selten, dass er ihn jedesmal wie zum ersten Male genoss. Durch die Gewohnheit des Bequemsehen’s wird der Sehnerv so abgestumpft, dass er den Reiz und die Verhältnisse der Farben und Formen nur noch wie hinter einem Schleier wahrnimmt.

Der seltene Genuss also ist für Nietzsche eine Grundbedingung, die Tragödie richtig wahrzunehmen. Und hier kann man bereits einen leichten Wink in unsere tagtägliche Gegenwart ausmachen, in der „Dauerglotzer“, „Dauerhörer“, die Dauerausgelieferten einer sogenannten Kultur, die längst keine mehr ist, als abgestumpftes Publikum, das keiner Kulturkritik mehr fähig ist, ihre Geistlosigkeit total passiv an die Medien zur Verwaltung delegiert hat. Abends immer vor dem gleichen Kreislauf an Belanglosigkeiten aufs Sofa niederzusinken, keine Erwartung mehr haben, zu sehen, zu riechen, zu fühlen oder gar einer heiteren Gelassenheit entgegenzusehen, wird uns der klassische Grieche, in den sich alle Romantiker von Hölderlin bis Rilke verliebt haben, ewig ein wundersames Geschöpf bleiben.

Mit Euripides, so Nietzsche, trat der Todeskampf der Tragödie ein: es entstand die Kunstgattung der attischen Komödie. Vor Euripides waren es heroisch stilisierte Menschen, denen man die Abkunft der Götter und Halbgöttern der ältesten Tragödie sofort anmerkte. Der Zuschauer sah in Ihnen eine ideale Vergangenheit des Hellenentums und damit die Wirklichkeit alles dessen, was in hochfliegenden Augenblicken auch in seiner Seele lebte.

Mit Euripides drang der alltägliche Mensch auf die Bühne. Es wurde gemeiner. Der listig-edle Prometheus-Charakter des Odysseus sank unter neuen Händen zur Rolle des gutmütig verschmitzten Hanswurst herab, der oft als verwegener Intrigant im Mittelpunkt des ganzen Dramas stand. Der bürgerliche Mittelstand kam jetzt zu Wort, nachdem bisher in der Tragödie der betrunkene Satyr oder der Halbgott Sprachlehrer gewesen waren.

„Es muss alles verständig sein, damit alles verstanden werden könne.“ Jetzt wurde jedes Einzelne vor dem Richterstuhl dieser rationalen Ästhetik gezogen, der Mythus voran, die Hauptcharaktere, der dramaturgische Aufbau, die Chormusik, zuletzt und am entschiedensten die Sprache.

Bis zu diesem Zeitpunkt waren in der klassisch griechischen Kunst Bewusstsein und Theorie unbekannte Begriffe. Nietzsche führt unter dem Begriff „Sokratismus“ die Formel ein „Alles muss bewusst sein, um schön zu sein mit einer Steigerung, die er Euripides zuschreibt: „Alles muss bewusst sein, um schön zu sein“. Euripides, so Nietzsche, ist der Dichter des sokratischen Rationalismus.

Die Missionstätigkeit des Sokrates lässt sich festmachen in den Sätzen: „Weisheit besteht im Wissen;“ und „man weiß nichts, was man nicht aussprechen und anderen zur Überzeugung bringen kann.“ Und klar ist, dass die mit den Mitteln jener sokratischen Überredungskunst in der Dialektik zu geschehen hat.

Die Tragödie nun, das hat bereits die nächste Generation an Kritikern erkannt, entpuppte sich als Frucht des künstlerischen Sokratismus, als schauspielartiges Schachspiel, als Intrigenstück.
Was Nietzsche nun Sokrates vorwirft ist dies, dass gerade das Unbewusste schöpferisch und affirmativ wirke, während Sokrates in dem Moment, wo er seinem Verstande misstraute, einer wunderbaren Stimme gewahr wurde (sie ist der Titel dieses Blogs), die Sokrates als hindernden Dämon wahrnahm. Diese Missachtung des Instinktiven verstellt ihm den Zugang zur Kunst.

Auch der göttliche Platon, so Nietzsche, ist in diesem Punkte dem Sokratismus zum Opfer gefallen, er sieht in der Kunst eine Nachahmung der Scheinbilder, wertet aber die Tragödie als erhaben und hochgepriesen.
Dennoch sagt Nietzsche, schwebe Platon zwischen allen Kunstgattungen, zwischen Prosa und Poesie, Erzählung, Lyrik, Drama, wie er auch das strenge ältere Gesetz der einheitlichen, – stilistisch-sprachlichen Form durchbrochen hat.

Die unkünstlerischen Wirkungen des Sokrates bring Aristophanes auf den Punkt:

„Heil, wer nicht bei Sokrates
sitzen mag und reden mag,
nicht die Musenkunst verdammt
und das Höchste der Tragödie
nicht verächtlich übersieht!
Eitel Narrheit ist es doch,
auf gespreizte hohle Reden
und abstraktes Spintisieren
einen müßigen Fleiß zu wenden!“

Nun wieder Nietzsche, der im folgenden Absatz seine klarste Kritik an Sokrates formulierte:
In Sokrates hat sich jene eine Seite des Hellenischen, jene apollinische Klarheit, ohne jede fremdartige Beimischung verkörpert: wie ein reiner durchsichtiger Lichtstrahl erscheint er, als Vorbote und Herold der Wissenschaft, die ebenfalls in Griechenland geboren werden sollte.

Die Wissenschaft aber und die Kunst schließen sich aus: von diesem Gesichtspunkte ist es bedeutsam, dass Sokrates der erste große Hellene ist, welcher hässlich war; wie an ihm eigentlich alles symbolisch ist. Er ist der Vater der Logik, die den Charakter der reinen Wissenschaft am allerschärfsten darstellt: er ist der Vernichter des Musikdramas, das die Strahlen der ganzen alten Kunst in sich gesammelt hatte. Das ihm eigentümliche Element der Dialektik hat sich bereits lange Zeit vor Sokrates in das Musikdrama eingeschlichen und verheerend in dem schönen Körper gewirkt. Das Verderben nahm seinen Ausgangspunkt vom Dialog.
Die Griechen als im Wettkampf verliebte Kämpfer konnten wohl nicht anders als im Dialog auszuarten in einen Wettkampf mit Wort und Grund mit heller Freude am klirrenden Waffenspiel in der Dialektik. Der Held des Dramas wurde so nun zum Worthelden.

Die Tragödie, aus der tiefen Quelle des Mitleidens entstanden, ist ihrem Wesen nach pessimistisch. Das Dasein ist etwas Schreckliches, der Mensch etwas sehr törichtes,
Der Held der Tragödie stürzt mit verhülltem Haupte in sein Unheil: seine trostlose aber edle Gebärde, mit der er vor dieser eben erkannten Welt des Schreckens stehen bleibt, drückt sich wie ein Stachel in unsere Seele. Die Dialektik dagegen ist von Grund ihres Wesens aus optimistisch: sie glaubt an Ursache und Wirkung und damit an ein notwendiges Verhältnis von Schuld und Strafe, Tugend und Glück: ihre Rechenexempel müssen ohne Rest aufgehen, sie leugnet alles, was sie nicht begrifflich zerlegen kann. Die Dialektik erreicht fortwährend ihr Ziel; jeder Schluss ist ihr Jubelfest. Wenn dieses Element in die Tragödie eindringt, so entsteht ein Dualismus wie zwischen Nacht und Tag, Musik und Mathematik.

Als die Lust an der Dialektik die Tragödie zersetzt hatte, entstand die neuere Komödie mit ihrem fortwährenden Triumph der Schlauheit und der List.
Hinter der Maske des Sokrates soll Glück und Tugend auf der Waage sich einpendeln. Sünde ist Unwissenheit.

Zum Ende seines wundervollen Vortrags bemerk Friedrich Nietzsche:
Es ist lächerlich, einen Geist bei einer Mittagsmahlzeit erscheinen zu lassen: es ist lächerlich, von einer so geheimnisvollen, ernst-begeisterten Muse, wie es die Muse der tragischen Musik ist, zu verlangen, dass sie in der Gerichtshalle, in den Zwischenpausen dialektische Gefechte singen solle. Im Gefühl diese Lächerlichkeit verstummte die Musik in der Tragödie, gleichsam erschreckt über ihre unerhörte Entweihung.

Die Blüthe und der Höhepunkt des griechischen Musikdramas ist Aeschylus in seiner ersten große Periode, bevor er nicht von Sophokles beeinflusst wurde. Mit Sophokles beginnt der ganz allmähliche Verfall, bis endlich Euripides mit seiner bewussten Reaktion gegen die aeschyleische Tragödie das Ende mit Sturmeseile herbeiführt.

Nach diesen Worten die vor 148 Jahren von einem der größten deutschen Denkern gesprochen wurde überkommt mich eine seltsame Scham. Denn in welcher „Lächerlichkeit“ finden wir uns denn heute wieder, wenn wir bemerken müssen, wie vor 150 Jahren sich ein Denker grämte, als die Dialektik eines Sokrates und seiner Vorläufer die Tragödie entweihten, während wir dank dieses Rationalismus des Sokrates unseren Planeten restlos an die Wand gefahren haben; aber darüber kein tiefergehender Gedanke mehr aufleuchtet.

Wäre ohne das Gespann Plato-Sokrates alles anders verlaufen?

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