ein Jahr Costa Rica: viel Lärm und Nichts…

EIN JAHR COSTA RICA
Vorwort: Im Mittelalter haben die Dorfgemeinschaften den psychisch Auffälligen eine Kopfbedeckung verpasst, mit Glöckchen dran, um diese vor sich selbst und die Gemeinschaft vor Überraschungen zu schützen. Überall, wo der Narr auftauchte, oder sich versteckte, hörte man die Glöckchen vielsagend bimmeln. Im heutigen Costa Rica, besonders hier in den bevölkerungsreichen Städten, setzen sich ganze Heerscharen von Jugendlichen diese Narrenkappen auf, indem sie ständig Lärm von sich geben. Sei es, dass der Eine oder Andere durch frisierte Auspuffe der Mopeds sich in Erinnerung bringen möchte, sei es, dass Geschrei und Lautsprecher auf den Straßen von Narreteien kund tun. Das Ruhig- und Stilleseinwollen alter Atztekenaristokratien sucht man heute vergebens.
Hier die Story:
Gegen Samstagmittag 14 Uhr verziehen sich zwei Orgelbauer ins paradiesische Paraiso, in die Orocay Lodge. Eine himmlische Ruhe begleitet den Ausblick ins Orosi-Tal. Dort unten gibt es die älteste Kirche des Landes, deren Anblick, wie erwartet, durch einen neuen Anbau völlig verschandelt wurde.
Ein Rabengeier dreht langsam seine Runden über dem Tal, das wie in Rauch gehüllt schwer atmet. Im Hintergrund tauchen blaue Berge auf, darunter der Vulkan Turrialba, heute ohne Rauchfahne, aber stoisch unbeugsam.
Hier und dort hört man Vogelschreie, Hundegebell, Stille kehrt ein. Kolibris schwirren heran, nektarieren, scheuen die Menschen nicht.
Erschöpfte legen sich auf die Betten in ihren Zimmern. Fenster und Türen werden geöffnet, um den kühlen Wind vom Pazifik einzulassen.
Das Wolkenspiel am Himmel perlt wie alter Regen aus Europa in die müden Augen der Halbtoten. Nur weit weg von Cartago, weg von Catedral, weg von den unbeugsamen, künstlich aufgetürmten Hindernissen, die jegliche feine Orientierung an alter Kunst und Weisheit missen lässt. Weg vom Lärm der Costa Ricaner, die zwei Existenzformen kennen.
a)Die Frau sagt: „ich esse, also bin ich“ b)der Tiko: „ich lärme, also bin ich“.
Man könnte diese Grundformen des costaricanischen Existenzialismus noch um ein paar Spielarten ergänzen, aber lassen wir das, werden wir nicht zu aufdringlich.
Ohne die schnell durchschaute Eitelkeit, die anderen Motiven hinterherläuft als unsere europäische, wäre es hier nicht auszuhalten.
Zurück im Paraiso Hotel, indem sich die Ausgebrannten vor ihrer eigenen Asche Erholung zufächeln. Es scheint alles noch im grünen Bereich.
Dann plötzlich beginnt ein Höllenkrach, der sich gewaschen hat, der das Ruhehotel in ein Tollhaus zu verwandeln droht: Mopedgeknatter paart sich mit dem Krach eines Quadro4.
Nach kurzem Zögern erhebt sich einer der Müden zur Explosion, und die steigert sich noch weit über den Lärm der beiden Motoren hinaus. Es knallt kräftig, Wortwechsel, Geschrei, Morddrohung, abgewandter Totschlag, Wiedervertragen, und endlich kehrt erneut Ruhe ein.
Die Europäer längst über die Grenzen ihres burnout hinausgewachsen nehmen noch Steak mit Gemüse ein, um in einen ersten Traum einzulenken.
Was für Tage waren das, die letzten zwei Monate, auf dem Rücken eines tollwütigen Mantelbrüllaffen. Endlich hatte man es geschafft, eine mechanische Kegelladenorgel, der in Europa nicht fünf Minuten Hoffnung vergönnt gewesen wäre, wieder spielbar zu machen.
Als nun massiver als je zuvor, die Weiterarbeit an diesem Instrument durch die Kirchenleute behindert wurde. So kamen die Orgelbauer letzten Montag morgens wie gewohnt um 7Uhr in ihre Kathedrale, als dort plötzlich ein Presslufthammer die Akustik des Kirchengebäudes in tausend Stücke riss. Dies zum Zeitpunkt des Feintunings, der geplanten Intonation.
Soviel zur Sensibilität der „costaricanischen Freunde der Orgel in der Kathedrale in Cartago“.
Wie die Orgelbauer darauf reagierten, wollen wir hier nicht in allen Details erläutern, nur hervorheben, dass sie die Entschuldigungen der Verantwortlichen nicht allzu wörtlich nahmen. Denn am nächsten Tag, war trotz ihrer Protesten, der gleiche Zustand wie zuvor. Der Blaumilchkanal unter der Kathedrale forderte seine Tribute.
Der Presslufthammer hatte eine solche Kraft, dass die Orgelbauer fürchteten, die Prospektpfeifen werden aus den Halterungen fallen. Das Positive an diesem Krach aber war, sie konnten endlich wahrnehmen, dass der bisher erfahrene Lärm sogar noch um Längen überboten werden konnte.
Mitten in der Nacht wachte einer der Orgelbauer auf, nicht mehr sicher, ob er all diese Dinge auf dem Rücken eines Mantelbrüllaffen geträumt hatte, denn die unheimliche Stille des Orosi-Tales schwang sich hinauf in den Vorgarten des Hotels und nebelte seinen Kopf so blau ein, dass er an diesen Erfahrungen zu zweifeln begann. Ganz von Ferne, nicht mal 4-5km entfernt, hörte er ein zartes Mopedgeknatter, das sich mehrere Minuten durch sein blau gefärbtes Bewusstsein zu spinnen anschickte, als seine Zweifel langsam der Gewissheit wichen.
Der Affe war. Die uralten Indianergeschichten, der Mayas, der Azteken und der Inkas waren beinharte Realitäten, die sich nicht dem Verstande oder der Vernunft erschlossen, aber den Emotionen und den Träumen.
Nur wer viel Zeit zum Schlafen hat, kommt den Mythen der Mittelamerikaner näher. Alles andere, ihre Orientierung nach Europa oder Nordamerika, das ist belangloses Zeug. Der Ritt auf Krokodil und Mantelbrüllaffen, die Dämonen in den Kirchen und Straßen der Hauptstädte, sie sind die wahren Götter dieser Landstriche. Wer jemals in das Auge eines Vulkans oder eines Tikos tief geblickt hat, der hat sie gesehen, diese Träume und Dämonen, dieses Unheil, das entsteht, wenn Europa Mannen in die verwunschenen Berge jener Regionen schickt.
Wie gelangweilt muss ein heuriger Maya auf einen Europäer blicken, der etwas von Orgelmusik fabuliert, während dort ein Dayang-Moped hell auflacht und mit bohrendem Dröhn in die Hirne jener Ignoranten eindringt.

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Precht „Erkenne die Welt“

Meinem Leib- und Magenphilosophen Friedrich Nietzsche würde sich in der Tat der Magen umdrehen, hätte er das zweifelhafte Vergnügen gehabt dieses wundersame Buch des Dauerschreibers Richard David Precht mit dem anspruchsvollen Titel „Erkenne die Welt“ in die Finger bekommen. Gelesen hätte er das an Fakten aufgeblühte und im Keime total erstickte Werk mit Sicherheit nicht.
In Jenseits von Gut und Böse, Aphorismus 30, schreibt Nietzsche (…) Allerwelts-Bücher sind immer übelriechende Bücher: der Kleine-Leute-Geruch klebt daran. Wo das Volk isst und trinkt, selbst wo es verehrt, da pflegt es zu stinken. Man soll nicht in Kirchen gehn, wenn man reine Luft athmen will.-
Dennis Scheck hat mich mit seinen Ausführungen verführt, dieses Buch in die Hand zu nehmen. Sein Spiegel-Bestseller-Check, der hin- und wieder ins Schwarze getroffen hat, gab irritierenderweise kund: „dieses Buch hätte ich als fünfzehnjähriger Knabe haben und lesen sollen.“
Keine Frage hingegen ist, dass dieses Buch bereits im Kindergarten vorgelesen werden kann.
Den Kids könnte während dem Einschlabbern der Mittagssuppe jener Faktenbrei akustisch miteingeführt werden und in anschließenden Diskussionsrunden wären schon erste geistige Verdauungstätigkeiten in Form einer gründlichen Diarrhoe zu bewältigen. Denn „Precht“ muss man kräftig fahren lassen.
Ein Buch also, das alles andere als Philosophie vermittelt.
Was dieses Buch bestens beibringt ist die Einbildung nun etwas von Philosophie mitbekommen zu haben. Wie überhaupt alles, was dieses zweifelhafte Schwatzen von Herrn Precht in all seinen Büchern mit sich führt: es ist ein zusammengeglaubtes Sammelsurium an Fakten, die er überhaupt nicht bereit ist zu durchdenken, zu durcharbeiten, weil er genau hier restlos versagt.
Es ist ja einfacher aus einem Stapel Sekundärliteratur sich schönes und gängiges Farbrauschen zusammenzuschreiben, so wie ein Grundschüler die Wasserfarben erstmal alle durcheinander mischt, bis nur noch grau und schwarz auf dem weißen Blatt erkennbar sind.
In diesem ersten Band „Erkenne die Welt“, und ich versichere keinen weiteren Band mehr von diesem belanglosem Gemüsebrei an mich rankommen zu lassen, redet der Verfasser davon die abendländische Philosophie von der Antike bis zur Renaissance beschreiben und dabei die jeweiligen historischen Erscheinungen zu Wort kommen lassen zu wollen.
Die Maßlosigkeit, mit der Herr Precht an die Antike herantappt, hätte nicht schlimmer sein können. Es schmerzt, wie plump und dumm er an antiken Philosophen herumfingert, die seit 2500 Jahren bei allen nachfolgenden Philosophen in höchster Anerkennung standen.
Zunächst ist es ihm elementar wichtig an der Oberfläche zu bleiben und keinesfalls Tiefgang zu zeigen. So also beginnt das Buch mit dem Bild des Raffael „die Schule von Athen“. Bereits hier verliert Precht kein einziges Wort über die mannigfaltige Esoterik, die in diesem Bild versteckt sind, dafür findet man Sätze wie: „Rafael malt ein gleichsam alltägliches Philosophengewusel (…)“. Natürlich, muss man sagen, denn die Welt des Herrn Precht ist Alltag und die Unübersichtlichkeit in Sachen Philosophie findet er in allem, was mit Philosophie zu tun hat. Jeder interpretiert seine Welt eben hinein in das Ding vor seiner Nase.
Ich erspare uns die Widersprüchlichkeiten, mit der Precht den Philosophen Thales behandelt. Es gibt hier fantastische Literatur, die tatsächlich richtiggehende Philosophie darstellt, wie Hans Blumenberg „Das Lachen der Thrakerin“. Hier wird uns Thales nahegebracht und mit Philosophie verwoben; Interpretation einesteils, abstraktes Denken, Alltag, Ironie, die Stellung des Menschen im All.
Geradezu lächerlich die Behauptung Prechts, Platon hätte Thales als Tölpel und Trottel dargestellt – etwas, das Precht sehr schnell passieren wird, wenn wieder einmal die Zeit für Philosophie gekommen sein wird.
In dem Moment, wenn Precht meint, die Person, den Philosophen, umfassend ausgeschöpft zu haben, blendet er Zeitgeschichte ein. Oder besser gesagt, seine Interpretation der Zeitgeschichte. Und diese Interpretationen, sei es die Geschichte der alten Griechen oder sein Blick in den Kosmos, oder schlimmer noch die religiösen Verhältnisse zur Zeit der griechischen Antike, plätschern in einer solchen Belanglosigkeit daher, dass man weder den Geschmack dieser Zeit auf die Zunge bekommt noch die Menschen dieser Zeiten überhaupt verstehen kann. Precht gibt sich nicht die geringste Mühe, seiner Perspektive des 20. oder 21. Jahrhunderts einen noch so kleinen Schubser zu geben, um die längst vergangenen Zeiten zu verstehen. Selten gelingt es ihm Wandel oder Paradigmenwechsel wie zum Beispiel vom Mythos zum Logos im 7.JH vor Christus gründlich darzulegen. Dort wo Fakten und heutige Zeit aufleuchten, wie beim Auftauchen der ersten Geldstücke um 650 v. Chr., da wacht er auf und da funktioniert sein Beschreiben in der ganzen postmodernen Beliebigkeit, in der er gut geschult ist.
Peinlich sind seine Analysen Phytagoras und besonders Heraklit betreffend.
Die Phytagoräische Harmonielehre, welche bis ins 19.JH, ja sogar bis auf Hans Henny Jahnn Einflüsse ausgeübt hat, erwürgt Precht mit dem dümmsten Satz des Buches: „Wie es heute Lichtverschmutzung gibt, so produzieren die kosmischen Klänge eine Art Klangverschmutzung“. Oder er sagt eine gänzlich totale Banalität im philosophischem Bierernst: „Doch wenn Phytagoras über Töne redet, so geht es ihm nicht um die Akustik selbst. Er nimmt an, dass Götter und Menschen, Himmel und Erde eine universale Freundschaft hätten, verbunden in einer universalen Ordnung- dem Kosmos!“ Heilige Einfalt, wie kann man solch eine verbrämte Logik in einem Buch unterbringen, das vorgibt sich mit Philosophie zu befassen.
Den größten Brocken aber liefert Precht mit seiner Darstellung des Heraklit. Nie zuvor in meinem Leben habe ich solch eine peinliche Unverschämtheit über einen Philosophen lesen müssen, der von der Romantik bis zu Heidegger tiefstens verehrt wurde. Nicht etwa, weil Heraklit glatte und klare Denkansichten mitgeteilt hat, sondern gerade weil er mit verschlüsselten Sätzen zum Denken angeregt hat, was natürlich Leute vom Schlage Prechts zurücklässt in völliger Unverstandenheit. Diese Leute wollen Verkehrsregeln, an die sie sich zu halten haben und keine Anregungen zum Denken.
„Mit Heraklit halten das Gezänk und die Misanthropie in die Philosophie Einzug“, so Precht. Im darauf folgenden Nebensatz: „aber auch eine bedeutende Erweiterung und Erhöhung des Logos“ lässt den Schluss zu, dass hier (wie auch in anderen Behauptungen) elementare Hirnspaltung des Verfassers vorzuliegen scheint.
Precht vergleicht nun im weiteren Phytagoras mit Heraklit und stellt fest: „Heraklit strebt nicht nach Wohlfühlharmonie (wie Phytagoras, gwm) , das fällt bei Heraklit unter den Verdacht des Gutmenschentums.“ Ich hoffe, Sie haben bemerkt, worauf ich hinaus will. Eine Szenario in der Philosophiegeschichte beschreiben zu wollen, das 2500 Jahre entfernt ist, mit Begriffen, die wir gerade mal 10 oder 20 Jahre kennen, das kann nicht gut gehen.
Eine Groteske allerdings ist, ein ganz elementares Stück Philosophiegeschichte wie die Dialektik ins Aus treten zu wollen, gelingt Precht mit folgendem Satz: „Heraklit behauptet, dass alles, was ist, zugleich durch sein Gegenteil bedingt ist und es als solches in sich trägt; ein folgenschwerer Gedanke, der (mit einem Wort Platons) als dialektisches Denken in die Philosophiegeschichte eingehen wird und dort vor einer großen Karriere steht.“ Und nun, zwei Sätze weiter, offensichtlich ist zwischen dem vorigen und dem nachfolgenden Satz ein Bierkegelabend in Köln gewesen: „Wenn die Welt ihrer Natur nach dialektisch sein soll, dann wundert es nicht, dass Heraklits Sprachstil so dunkel ist.“ Hat man je etwas Verrückteres gelesen als diese Worte Prechts?
Ich könnte beliebig weitermachen in der Dekonstruktion dieses unglücklichen und vor allem unnötigen Buches, das hoffentlich wenig Leser findet. Denn es gibt so viele gute und nachdenkenswerte Bücher, die sich mit all diesen Themen beschäftigt haben, die nie solch freche und frivole Oberflächendarstellung zutage gebracht haben.
Herr Precht, es gibt so viele Möglichkeiten, wie sie sich weiterentwickeln können: Kochbücher, Harry Potter, die Tatort-Serie könnte von ihnen und ihrem Schlapper-Schreibstil enorm profitieren, sogar einige peinliche Philosophiezitate könnten Sie Boerne unterlegen, wenn er vor Thiel aufglänzen muss. Aber lassen sie endlich die Finger von der Philosophie. Oder gehen Sie in die Politik, da werden solche Schauspieler, die auf klug machen, gesucht.

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Das Ludwigsburg-Syndrom

In einer Einführung zu seiner Psychoanalyse schreibt Sigmund Freud, ziemlich genau vor 100 Jahren, „dass Triebregungen, welche man nur als sexuelle im engeren und weiteren Sinn bezeichnen kann, die Ursachen für Nerven-und Geisteskrankheiten seien, und dass dieselben sexuellen Regungen an den höchsten kulturellen, künstlerischen und sozialen Schöpfungen beteiligt seien. Unter diesen Triebkräften spielen die Sexualregungen eine bedeutsame Rolle; sie werden dabei sublimiert, d.h. von ihren sexuellen Zielen abgelenkt und auf sozial höherstehende, nicht mehr sexuelle, gerichtet.“ (frei zitiert, gwm)
Für diese Zeilen ist Freud heftig kritisiert worden, auch wenn der seltsame Umstand unmittelbar nach dem I.WK eintrat, dass sich Literatur und Kunst mit Dada und Surrealismus tief in die Psychoanalyse beugte.
Weniger geschmeidig zeigt sich damals wie heute die „Geistigkeit“ jenseits von Philosophie und Literatur: nicht mehr der Mittelpunkt der Welt sein, seit Galilei; nun mit Freud nicht einmal mehr Herr im eigenen Haus zu sein, ja „Gottprojektion“ auf sexuelles Triebleben zurückführen, das noch im Unbewussten ein von Verstand und Vernunft unabhängiges Eigenleben führt.
Das Entsetzen darüber wurde durch zwei Weltkriege und dem Aufmarsch der Nazi-Barbaren in Deutschland verdrängt.
Ich weiß nicht, ob heute jemals eine solche Aufarbeitung stattgefunden hat. Aber sicher scheint mir, dass die Gläubigen des einen Katechismus rasch auf die Seite des wissenschaftlichen Katechismus gewechselt sind und eine Vergessenheit eingesetzt hat, die wieder über die Hintertreppe in einem Vergangenheitswahn besonders in der „klassischen Musik“ ihren Grund gefunden hat.
Man sehe sich die Kirchen in Deutschland an: De-mentia = Entgeisterung, ein Heer Dementer singt geistlose Lieder. Über ihnen hängt die dunkelschwarz gefärbte Wolke des absoluten Nichts, aufgeblasen von technischen Orgelwerken, die in ihrer Geistlosigkeit in nichts dem Liedgut nachstehen.
Am nagelneuen Spieltisch der anteECO-Orgel vom Ehrgeiz zerfressene Organisten, die es geschafft haben eine Million in die Kirchenmusik reinzubuttern. Die ihr Vergessen darin üben, irgendwelche belanglosen Prelude-und Fugen-Varianten zu perfektionieren, die keiner mehr hören will. Die Orgel gespendet von reichen Leutchen, die damit etwas Seelenruhe erkauft haben. Man weiß ja nie.
Es fällt schwer zu glauben, dass hinter solchen Zuständen kein „freudsches Triebleben“ stecken soll, sondern noch ein Gran bewusst gesteuerte, geistige Frische, welche die Welt braucht in der heutigen Zeit. Wo doch klar sein soll, dass morgen um jedes Wasserloch gekämpft werden wird und am Tag zuvor in den Kirchen noch der Luxus gefeiert wird.
Das System des Ludwigsburger Syndroms, das eine vielschichtige Krankheit darstellt, mit unterschiedlichen Symptomen, ist etwas, das zumindest aufgedeckt werden muss.
Weil, wie wir sehen werden, daraus rasch eine Ludwigsburger-Syndrom-Schule entsteht, die kurioserweise noch mit der Oscar-Walcker-Schule unter einer Decke steckt.
Ob man damit etwas erreicht, sei dahingestellt. Sicher ist jedenfalls, dass nicht nur in Baden-Württemberg die Seuche bereits wütet und wir mit raschem Wachstum rechnen können.
Es ist eine Krankheit, die strategisch vorgeht:
a) Wartungsstau herbeiführen
b) selbst ein paar Stellen flicken und dem Kirchenvorstand solche exemplarische Mängel zeigen.
c) Schulklassen in die verkommene Orgel führen und schimpfen lassen.
d) Orgelbauer, denen das Maul mit einem Neubau wässrig gemacht wird, werden zum Orgelzustand befragt.
e) Wenn die Mangelsituation nun entsprechenden Anklang gefunden hat, kommt der entscheidende Schritt: die Zeitung muss her, ein möglichst einfältiger Reporter, dem man die Fragen auf die Zunge legt, hat entsprechenden Artikel zu drucken.
Nun kann man scharf mit dem Vorläuferinstrument ins Gericht fahren und gefahrlos Ross und Reiter benennen. Punktum
Mit Gegnerschaft hat man nicht zu rechnen, wenngleich die offensichtliche aber versteckt gehaltene Unwahrheit, die solche Projekte begleiten, nie offen attackiert wird. Es findet ja in der Kirche statt, wo doch heutzutage sowieso kaum noch „Wahrheit“ erwartet wird und die „Dementia“ wahre Feste feiert.
Nun, da ein exemplarischer Fall in der Ludwigsburger Stadtkirche stattgefunden hat, habe ich das gesellschaftliche Phänomen mit „Ludwigsburger Syndrom“ benannt.
Hier wurde ein Sammelsurium von Münchhausen zusammengeschnürt und selbst noch nach Abschluss der neuen Orgel auf die Vorgängerfirma abgelassen, wie man es sich bei einem gesunden Menschenverstand kaum vorstellen konnte. Letzte Reste an christlicher Moral wurden fahren gelassen. Vornehmheit und Größe schrumpelten zu mickriger Kleinheit zusammen.
Auffällig ist nun, dass Organisten, die es geschafft haben über die Wahrheit zu triumphieren, regelrechte Beratungen ihren Kollegen angedeihen lassen, wie solche Syndrome ihre größtmögliche Wirkungen auszustrahlen haben.
So geschehen in der Vaihinger Stadtkirche, wo der Organist alle Spielregeln des Ludwigsburger Syndroms fast exakt einhielt. Ihm unterlief allerdings der Fehler, 12 Jahre vorher, nach einer Generalüberholung seiner Orgel, in höchster Verzückung dieses Instrument zu verklären.
Da werden sicher noch der eine oder andere Frosch quacken. Aber der Gang der Geschichte wird sich nicht aufhalten lassen. Die Maniaks bleiben Eiferer bis zur neuen Orgel, wo sie dann nieder knien als Imbeziller in weihevoller Andacht. Oedipales grausiges Schicksal derer, die nicht hören wollen. Taubsein ist auch ein Schicksal.
Die Lügen die so in den baden-württembergischen Kirchen herumspaziert, als sei sie endlich hier heimisch geworden, wir werden es nicht mehr erleben, das sich eine der Kirchen entfernende Gesellschaft darum nochmal kümmern wird. Vielleicht werden noch ein paar verlorene Muslime oder Chinesen die neuen Wunderwerke Orgel fotografieren, hören, das heißt doch „Geist erfahren“, will sie keiner mehr.
Bei Einweihung einer neuen Orgel in der Nähe Hannovers, so wurde mir gesagt, waren gerade mal noch sieben Kirchgänger anwesend. De-mentia eben.
Meine Klagen gegen die Zeitungen, die solche Projekte mit all ihrer banalen Dummheit aufpuschten, derer die Württemberger fähig sind, und die sie mit offensichtlich falschen Daten unterfüttert haben, wurden abgewiesen.
Einerseits, weil es Meinungsäußerungen von Organisten waren – also diese Leute dürfen öffentlich die Unwahrheit sagen. Dafür kann die Zeitung ja nichts. Hier müsste man mit Unterlassungsklagen weiter arbeiten, so ein Anwalt. Aber bin ich ein Klageweib, an einer Klagemauer? Euer schlechtes Gewissen und der Biss dazu ist mir Genugtuung genug.
Andererseits will ein Richter gegen die Stuttgarter Zeitung, mit der er jeden Morgen sein Frühstück garniert, keine solche Klage beim Landesgericht in Stuttgart zulassen. Denn da stehn ja nur knallharte Fakten drin. Ein Prosit auf die Justiz.
Das aufkommende Desinteresse des Geistes an sich selbst gebietet den Blick auf das Alte, wo noch Geist, Schwung, Frische war.
Mir wird es ungeheuer, wenn man das Alte nur noch mit dem Uralten gleichsetzt.
Und wenn niemand mehr komponiert, wenn so alles verklingt,
und das uralte Lied durch die
hohlen Schädel der
De-mentia
hallt…

….es tut so weh!
gewalcker@t-online.

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wo zum Teufel ist die Musik?

Im Jahre 1739 veröffentlichte Johann Sebastian Bach Choralbearbeitungen, darunter Präludium und Fuge in Es-Dur, deren beide Teilstücke für mehrmanualige Orgel mit Pedal zur Ausführung bestimmt waren.
Der Notenstecher Balthasar Schmidt fertige das Druckwerk. Weltweit werden wohl hunderttausende von Druckexemplaren mit dieser Musik heutzutage im Einsatz sein. Sicher ist auch, dass seit dem Jahr 1739 Millionen von Interpretationen dieser Stücke in verschiedensten Qualitäten Hörer aller Arten erfreut haben.
Und nun zum Problem.
Hört man sich eine Interpretation dieses Präludiums und der Fuge an, so wird man rasch einig werden, dass diese Interpretation eine Art Stellvertreterfunktion für diese komponierte Musik einnimmt, aber nicht das Musikstück selbst darstellt. Das Musikstück würde auch in diesem Fall nur für die Dauer der Interpretation vorhanden sein. Noch weniger wird man die bedruckten Notenblätter heranziehen, um zu dem scheinbar objektiv vorhandenem Musikstück vorzudringen, denn die materialisierte Musik klingt nicht.
Auch der Umstand, wenn man alles Druckwerk vernichten würde, so wäre die Musik immer noch da, und sei es nur im Hinterkopf eines gelehrigen Organisten.
Würde man allerdings alle Menschenschädel einschlagen, ein Beispiel Schopenhauers, was heute schneller passieren kann als 1739, so wäre das Orgelstück für alle Zeiten verloren, außer es gibt das Absolute, das alles Geistige bewahrt, von dem allerdings nur Hegel etwas wissen konnte.
Wo also befindet sich dieses Werk? Klar ist, das Werk ist eine Abstraktion, die ohne Menschen nie zur Erscheinung treten kann. Klar ist aber auch, dass sowohl Zeit wie Raum unnötig sind, um dieses Orgelstück bewahrend am Leben zu halten. Und in diesem Moment betreten wir die heiligen Hallen der Metaphysik.
Der Begriff „Metaphysik“ stammt von Aristoteles, der unter „physis“ das von sich selbst Aufgehende, das sich Eröffnende, Entfaltende, das in Erscheinung tretende, verstand, ein ganz wichtiger Begriff aus der antiken Philosophie, und angereichert mit „meta“, über etwas weg, hinüber…, nun einen Superbegriff schaffte, der ursprünglich alle Philosophie umklammern sollte.
Es gibt zwei hochinteressante Bücher zum Thema. Einmal Theodor W. Adorno „Metaphysik“, sein einziges Buch, das man tatsächlich ohne Philosophiestudium lesen kann. Das aus Vorlesungen im Sommersemester 1965 entstand und das Ringen des Professors um das Verständnis der Aristotelischen Vorstellung zwischen Form und Stoff (Idee und Materie) offenbart. Auch unbedeutende Nebensätze zeigen uns, wie Adorno in die Tiefe des Aristotelischen Verständnisses und Zusammenhangs eindringt und immer wieder auch auf Gefahren der falschen Interpretation hinweist.
Hier bei unserem Musikstück, das sich nirgendwo aufhält, aber als Form omnipräsent ist und nur den Stoff braucht (die Noten, die Orgel und den Interpreten) um realisiert zu werden, und dabei von Adorno an die Hand genommen zu werden, zum Beispiel, wie Aristoteles die Beziehung zwischen Stoff und Form sich dachte. Das, so denke ich, ist ein schöner Spaziergang, der uns über Metaphysik viel sagen kann.
Ganz anders, aber fast wie ein Kriminalroman lesbar ist Martin Heideggers „Metaphysik“, 1935 in Freiburg gelesen, 1957 überarbeitet und gedruckt. Nun Heidegger ist uns heute mit seinen „Schwarzen Heften“ nicht mehr so sympathisch, aber man kommt ohne ihn kaum aus.
Ohne ein altgriechisches Wörterbuch ist seine „Metaphysik“ kaum verständlich. Obwohl Heidegger immer wieder ausführlich auf die altgriechische Sprache eingeht. Heidegger ist ein Sprachgenie. Man muss sich ganz mit ihm beschäftigen, man muss in seiner Sprache Platz nehmen und sich immer wieder vergewissern, was ist das?, was er da sagt. Fragen ist Philosophieren, so beginnt das Buch. Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?
Und auch da sind wir wieder bei der Musik. Warum gibt es eine komplette Oper und wo ist sie, wenn gerade keine Interpretation von dieser Oper aufgeführt wird.
Haben doch die Realisten im Universalienstreit recht gehabt, dass es hinter der realen Welt noch eine weitere gibt, wo all diese Ideen aufbewahrt liegen. Was ein Metaphysiker ganz entschieden mit „diese Hinterweltler“ bestritten hat, nämlich Friedrich Nietzsche.
Aber wo sind sie dann, diese Baupläne, Ideensammlungen, Kompositionen, die in allen Lebenden vorhandenen Schicksale und Fügungen, die die alten Griechen vom Mythos bis zum Logos verfolgt haben.
Kein Zweifel gibt es, dass seit Platon und Aristoteles, beide haben zwar unterschiedliche Auffassungen über Idee und Materie oder Stoff und Form, diese Metaphysik sich zur abendländischen Grundvorstellung entwickelt hat und heute noch unsere Alltagsvorstellung repräsentiert.
Mag sein, dass wir mehr und mehr zu Materialisten werden, die immer irgendwie ein Stück Stoff oder Materie brauchen, um zu glauben.
Aber wo zum Teufel ist die Musik?
gwm

zu Adorno „Metaphysik“
Wie bei der Metaphysik des Aristoteles alle Gedanken auf den „unbewegten Beweger“ hinführen, so deutet bei den Gedankengängen Adornos alles auf „Auschwitz“. Und das ist die Aufhebung aller Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz. Nicht aber ist dies ein letzter verzweifelter Aufschrei, sondern es ist die Mahnung zur „Infragestellung“ aller Philosophie. Und mit diesem „Wirf weg!“ und dem Infragestellen taucht bei Adorno ebenfalls wie bei Heidegger (am Anfang seiner Metaphysik) das Motiv auf in die Tiefe zu gehen. Eben das geht nur über die Frage.

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Fitzgeraldo in Cartago

(aus einer Restaurierungsarbeit in Costa Rica)
Hier eine Opera hinzaubern, wie man sie sich vorstellt. Das ist der Clou.
Die Substanz dazu: eine Orgel, die gerade mal 8 Jahre nach meiner Geburt hier eingebaut wurde. Also zu einem Zeitpunkt, wo wir als Kinder im großen Montagesaal in Ludwigsburg alle möglichen Giganten, die von hier aus in die Welt entlassen wurden, argwöhnisch beäugten. 
Die Beliebigkeit und Langweiligkeit der alten Welt kann man in Costa Rica hinter sich lassen, wie eine allzureife Mangofrucht, die schon zu faulen beginnt. Neue Impulse lassen sich verwerten, und wer wandlungswillig in diesen neuen Fluss eintaucht, er wird der Begeisterungsfähigkeit dieses kleinen Völkchens, das oft vom Kirchplatz mit den Knien zum Altar rutscht, um Vergebung bettelnd, mehr scherzend als in irgend einem tiefen Glauben verharrend, sich vergewissern können. Noch hat jeder Narr hier seine Fangemeinde gefunden. Und sei es, dass er heiliges Wasser gegen die Unruhe der brodelnden Berge gesprengt hat, das sie verstummen ließ.
Orgelklänge in diesem Lande kreieren und wie einen Dreizack gegen den tumben Aberglauben der Heiden werfen, einem katholischen Kierkegaard gleich, das ist der Traum. Sehen wir, wie es vonstatten gehen wird. Momentan sind wir noch tief im Materialismus der Orgel eingetaucht, von Form oder Idee noch keine Spur.
Zunächst werden die Problem-Megalithen aufgelöst, gesprengt, was 3 Wochen Arbeitszeit erfordert. Dann feuern wir dem Regengott Chaac ein Opferfest, indem unsere Binden und Fesseln nach Europa aufgebahrt, gen Himmel empordampfen. Aber da machen sich bereits erste Schwierigkeiten auf.
Als im 12.Jahrhundert die Orgel in die mittelalterlichen Kathedralen einzog, geschah etwas Unerhörtes: die Ritter, Mönche, Bauern, Bürger, kamen wie gewohnt zur sonntäglichen Messe und sie hörten plötzlich den stehenden Ton der Orgel. Gegen den gewohnten Minnegesang und Gregorianischen Choral gesetzt, das Auf und Ab der menschlichen Brust, der Natur schlechthin, wurde durch die unendliche Bewegung des unbewegten Bewegers gesetzt. Gottes Stimme war leibhaftig in der Kathedrale anwesend. Es versetzte dem mittelalterlichen Volk panischen Schrecken. Dieses grandiose Symbol umging eine Falle, die spätestens in der Reformation wieder aufschnappte: das Bilderverbot.
Die „ontologische Differenz“ (Differenz zwischen Mensch und Gott) fand statt, indem der Mensch in seiner Kurzatmigkeit den Dauerton der Orgel ins unmittelbare Jenseits einzuordnen versuchte. Der Mensch hatte zu diesem Zeitpunkt die größtmögliche Distanz zur Orgel.
Und nun wieder zu Costa Rica.
Als ich vor zwei, drei Tagen an der Catedral in Cartago vorbeiging, hörte ich den Organisten an der Orgel und über Mikro einen Schlager präludieren, in einer Art wie er bei uns etwa Anfang der 70er Jahre in der ZDF-Hitparade vorgetragen wurde. Genau dasselbe Stück spielte er fünf Jahre vorher, als wir bei letzten Besuch dort einkehrten, tatkräftig durch Mitsingen der Gemeinde gestützt.
Dies, so meine ich, ist die geringstmögliche ontologische Differenz. Das Jenseits wird verspottet, für Zwecke des Diesseits missbraucht. Geglaubt und gebetet wird, um einen Nutzen im hier und heute zu haben.
Der panische Schrecken vor Gott ist einem Schrecken vor dem Menschen und seiner Technik gewichen.
Fitzgeraldo, da dürften kaum Zweifel aufkommen, ist kein Ethiker, kein Mensch des Glaubens, er ist nichts anderes als ein Ästhet. Sein Gott allein ist die ästhetische Wahrnehmung, die feine Empfindung, das Veredeln der Realität durch Kunst.
Und dennoch, so glaube ich, kann dieser Fitzgeraldo, wie einst Johann Sebastian Bach, durch seinen unbedingten Willen, seinen Glauben an Perfektion und Stilsicherheit, durch die Verwirklichung seiner Idee, durch Herausarbeitung der „Differenz“ eine Transzendenz vermitteln, der man nur noch mit Begriffen unterlegen könnte, ob es sich um Religion oder Ästhetik handelt. Hinter den Begriffen, der gelebten Erfahrung aber, dürfte es ziemlich gleichgültig sein welchen Stempel diesen Erfahrungen aufgedrückt wird.
Denn das völlige Aufgehen in eine durch den Geist kanalisierte Empfindung ergibt tiefen Sinn.
31.Mai 2015 Cartago, Costa Rica, gewalcker@t-online.de

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Mängelbehaftete Tagebuchauszüge 2014

mängelbehaftete Tagebuchauszüge
eines auf Reise befindlichen Orgelbauers Juli-November 2014
Bruchstücke zum Zwecke der Verinnerlichung

10.Juli 14
Maschinen sind nicht auf den Aufbau und die Erhaltung ihrer eigenen Struktur ausgerichtet, sondern auf Herstellung (Erhalt und Verkauf) von Produkten. (Luhmann)
Lebende Systeme wie Körperzellen sind Systeme, die von der Eigendynamik her auf Fortsetzung ausgerichtet sind (autopoiesis). Die Welt als ein sich selbst gebärendes Kunstwerk (Nietzsche)
Würde man solcherlei „Selbsterhaltung“ einer Maschine in Form eines Programms implementieren, sie würde jämmerlich zugrunde gehen. Es würde der Maschine die „Zahl“ fehlen, der Ruf „konsumiert mein Produkt!“, „kauft, verbraucht!“ und damit „z a h l t“.
Diese Not der Maschine auf den zahlenden Menschen angewiesen zu sein, ist ihre Beschränkung.
Der Technokratiker würde andernfalls eine Maschine erschaffen, die im Gegensatz zu ihm, an Religion und Kultur glauben würde, also an Unnotwendiges.
Das Problem bliebe, die Maschine mit Zahlen zu füttern (Programmieren) mit der Aufforderung, nicht an Zahlen zu glauben.
Die Monetarisierung der Welt wäre ohne Maschine undenkbar. So wie Mathematik ohne den Umstand undenkbar wäre, sein Leben „geldgerecht“ einzurichten. (gwm)

12.Juli 14
Wenn man sich durch das Leben pfuscht, ein weinig Reue empfindet und meint, das übrige werde sich schon machen lassen, dann hat man ein für allemal darauf verzichtet. (frei nach Kierkegaard)

Kirchenbesuch: Pathos in einer schwarzgefliesten Waschküche. Nagelneue Orgel mit der Klangfülle einer Gießkanne. In der Predigt schlummert die Dramatik eines Sonntagabend-Tatort. Der Tote ist der Pfarrer selbst. Soviel Entweltlichung in seinen Worten hat er nicht vertragen.
Angriff der Hinterweltler: ja, sogar im Diesseits gibt es eine weitere Welt, aber wichtiger ist die im Jenseits (weil wir den Planeten schon genug versaut haben, brauchen wir es wieder, das Jenseits) gwm

17.Juli 14
Über der Ukraine regnet es 298 Menschen

20.Juli 14
Konfliktgeneigtheit wächst, wenn die Partner ihre Beziehungen intensivieren….
Die moderne Gesellschaft hat die Unterscheidung von persönlicher und unpersönlicher Beziehung radikalisiert. Persönliche Beziehungen werden überlastet (überhitzt), unpersönliche total abgekühlt. (Das Abschlagen eines lebendigen Menschenschädels betrachten wir auf Youtube inzwischen in ausgemachter Kühle, während leichtes Unwohlsein des 58jährigen Sohnes der Mutter schlaflose Nächte besorgen kann) gwm

23.Juli 14 auf einer Zugfahrt
Eine Frau sitzt im Abteil, liest ein Buch, auf dessen Schnitt „Mängelexemplar“ zu lesen ist. Ein Mann geht auf sie zu, schwingt einen knallroten Filzstift und ruft ihr zu: „haben sie wohl billig erstanden?“. Er zieht mit seinem Stift einen dicken Strich über das Wort „Mängelexemplar“.
Ich lach laut auf. Sie entgegnet mit kleiner gewordenen Mausaugen süffisant: „Nun hat es seine alte Wertigkeit wieder erhalten“. (gwm)

28.Juli 14 in Neuwied
Der Wert verweist auf einen Mangel, er ist ein Zeichen für Bedürftigkeit. (…) Denn, dass wir Objektivität und ihren Ausdruck in Theorie und Wissenschaft schützen, ist ja selbst nichts anderes als eine Wertung. Und es ist eine geradezu schwindelerregende Einsicht, dass auch hinter dem Anspruch auf Objektivität nichts anderes als ein letztlich subjektives Bedürfnis steht.
(…) Werte schaffen erst den geschlossenen Horizont, der für das Handeln notwendig ist. Gerhardt – Nietzsche

(im Prinzip ist es so, dass ich für eine Meinung oder Ansicht eine Begründung habe, hinter der wiederum eine weitere Begründung steht, die erneut begründet wird usw. , ein unendlicher Regress, bis ich auf einen grundlosen Grund stoße (Heidegger: Abgrund), was keiner vernünftigen Begründung mehr zugängig ist. Das ist ähnlich den Aporien der Wissenschaften, sie gründen auf nichts Nachweisbarem mehr. Die letzten Dinge schweben frei. Ob wir Solipsisten sind oder nur träumen, ob es eine harte Realität gibt, ob wir konstruieren? – Nichts davon wird man je exakt nachweisen können. Man könnte es sich leicht machen und sagen: „Die Astrophysik konstruiert einen Kosmos, den es nicht geben kann, weil in der Natur keine Mathematik zu finden ist. Es gibt sie nur im menschlichen Hirn. “ Dann aber haben wir das Problem, zu erklären, warum das Flugzeug vorgestern exakt zur geplanten Zeit am geplanten Ort gelandet ist, mit einer gewaltigen Masse an Materie. gwm)

Nach dem Wert des menschlichen Daseins überhaupt zu fragen, stößt, wie Hamlet, immer nur auf das Entsetzliche oder Absurde des Daseins.

Der rational erschlossene Lebenssinn führt in die Absurdität! Gerhardt – Nietzsche

11.Aug 14 Wuppertal
Die tragische Grundstimmung zeichnet alle aus, die angesichts der blinden Notwendigkeit des Lebens dennoch handeln, die sich Ziele und Zwecke setzen, obgleich sie von der Vergeblichkeit aller Zwecke wissen. Gerhardt – Nietzsche

15.August 14 Bliesransbach
Ressentiments kleiner Schreier. Paranoida. Die Kleinheit durch Lautheit sublimieren. Dazu nur einen Ratschlag: kalt werden, kalt werden lassen. Das reichhaltig Belanglose abtropfen lassen. Geschminkte Maskenparade. In seine erklärte Einsamkeit sich zurückziehen. Nicht in einer einseitigen Zweisamkeit aufgehen (ein Du- und Du gegenüber dem TV, oder schwarzer Spiegel iPad, zeige mir mein wahres Gesicht, mein Gänsegeschnatter, das als Chat in Form elektrischer Impulse durch Raumlosigkeit in Räume gelangt, bei denen meine tausend Triebe als „Ich“ gehandelt werden. ) Lass die Sesshaften sitzen, schwitzen und furzen. Mich und meine tausend plus eine Eitelkeit schickst du raus zu den Kühen, die mich gutmütig anglotzen und sagen: aber was für ein Mensch ist das, der schlecht bezahlt über andere denkt ? (gwm)
Das Schöne sei allem heftigen Willen unerringbar. Nietzsche
Die Kunst braucht den Widerspruch. Nietzsche (Der Kitsch braucht Sieglinde Schüffler-Kästermann. gwm)
Der Wille ist das an sich Unauthentische. Nietzsche
Der Mensch trifft in allem, worauf er fühlend und denkend stößt, letztendlich immer nur sich selbst. Nietzsche

18.August 14
Wie einen kleinen Blumenstrauß trug er ein stilles Gefühl der Freude vor sich her. Beinahe zum Greifen, zum Riechen, war dieser Strauß, dieses kleine und beschauliche Glück auf Zeit. (gwm)

18.Oktober 14
Es ist nicht gefährlich, das Fallen bringt dich nicht um…. Traumstimme
Heraklit: Wahrheit ist nichts als eine heroische Illusion
In dieser Illusion kommen wenige Einzelne zu übermenschlicher Größe, gelangen die Kulturen zu ihrer Blüte, die Menschheit aber findet darin nur umso schneller ihren Untergang…..

31.Okt.14
Im Blick auf die höchsten und seltensten Tugenden ist die wissenschaftliche Erkenntnis von lächerlicher Geringfügigkeit. Auf der einsamen Höhe, die das ehrwürdige Exemplar der Gattung Mensch erreichen kann, wird sie gleichgültig. Denn eine am Ideal der Objektivität ausgerichtete Erkenntnis setzt selbst keine eigenen Ziele und verbleibt deshalb im Dienst fremder Wertungen.
Aus diesem Grunde verliert sie für Nietzsche jedes Interesse.(…)
Die Wissenschaft mit ihrer Wahrheit ist nur ein Mittel und nichts selbst schon Zweck. Das was Zwecke setzt und damit Werte schafft interessiert ihn, was Menschen Sinn gibt. Gerhardt

11.Nov.14 (in Schottland)
Du aber bist einer, der mit der Peitsche hinausgeprügelt werden muss. Einer der keine Wärme kennenlernen darf. Der keine Heimat kennt, der sich nicht den biergebrunsten Werten deutscher Fußballgemeinschaften unterwirft. Du darfst nicht im bücherwarmem Stall alt werden!
Peitscht ihn hinaus in die Kälte! (… zu seinem inneren Schweinehund, nachdem er Platz genommen hat zu seinem Kasperltheater am Computer, was er und andere gerne als „Arbeit“ oder „intellektuelle Seelsorge“ bezeichnen wollen)

23.Nov.14
Sich unablässig Sinn zuführen – oder besser nicht unablässig, sondern gelegentlich, Sonntags

24.Nov.14 (in Moyeuvre Frankreich)
Gott vergibt immer, der Mensch manchmal, die Natur nie..- (Franziskus, Papst)

28.Nov.14 Moyeuvre
Das Leben scheint nur aus Widerständen zu bestehen…- durch den letzten großen Widerstand wird es beendet (gwm)

und die Türen des Dunkels aufgehen (Tranströmer)

das Wort war mir zu groß (Hyperion – Hölderlin)

im Baumarkt Brett(1200×300) und Schleifpapier besorgen (gwm)

gewalcker@t-online.de
zusammengefasst am 15.März 2015

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Nacht ist es… nun reden lauter all die unseligen Dinge

und reden und reden und werfen nur Schatten.
Nacht…. welch ein gigantisches Wort?!
Wie viele Bilder werden wir brauchen, um ein solches nächtiges Wort malend zu erfassen?
Nacht…..
Nacht-ist-es_nun-reden-lauter-all
…. nun redet lauter all ihr unseligen Dinge, ihr Ungetüme aus Traumfetzen und tausend Augen, ihr Unseelen, ihr Dämonen, ihr Schlangen, ihr Bitches, Sphinxen, Pandoras, ihr Sirenen, ihr Medusen, ja wie kann man euch, ihr Ungetüme, Herr werden, da doch Nacht ist…
und wieder ist es Nacht, wo Lachen und Wachen vereint und doch nicht erwünscht sind.
trunkenes_Nachtmeer
Schlange und Adler zeigen dir an, wie weit dein Wachen gediehen ist, in deiner letzen Nacht, wie weit Himmel und Erde vernaht wurden,
in dieser Nacht…
Nacht ist es und wieder reden sie, nur über dich, nur über deine schwarze Nacht, die nie gedacht wurde:
symbolon_schwarz_nacht

Nacht ist es,…. wie irre sind wir in dieser Nacht, wie irre werden wir in der nächsten Nacht sein?

ein Nachttrunkener

(c) Bilder gwm 2015
pics in high solution: gewalcker@t-online.de

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an einen Midifreund

Lieber Herr Hachmann,
sicher haben Sie recht, dass mein Technikverständnis 20 Jahre in Sachen Midi hinterherhinkt.
Jedoch ist die Qualität der Technik nicht mein Kritikpunkt.
Ich empfehle jedem jungen und an der Musik begeisterten Menschen zuerst einmal ein Instrument spielen zu lernen und sich dann mit sekundären Techniken zu beschäftigen.
Vielleicht hat die Miditechnik einen Sinn in der Überprüfung des Lernerfolgs. Wer weiß aber auch, ob dieser massive Filter „Technik“ nicht den Zugang zum Instrument verwehrt, weil mit raschen Vorführeffekten gereizt wird?
Meine Erfahrung der letzten Jahrzehnte ist, schöpferischer Umgang mit Digitaltechnik ist extrem begrenzt.
Technisch gesehen ist es auch so, dass die Miditechnik, im günstigsten Fall, ein Byte für die Dauer einer Note bereitstellt, also 256 Zeitwerte, während es in natura eine unendliche Bandbreite ist.
Wir vergröbern mit der Digitaltechnik unsere wahrnehmbare Welt sowohl optisch als auch akustisch. Und das empfinde ich zunächst einmal als Verarmung. (Dass wir heute viel bessere Fotos haben als vor zwanzig Jahren führt ja auch zu den Mängeln der oberflächlichen Bildwahrnehmung, der Bildflut, der Übersättigung usw., und letztendlich der Veränderung der Welt in ein Farbschema, das der Natur nicht entspricht)
In den Sinnen, wodurch der Mensch die höchsten Emotionen erfahren kann, durch den Geruchssinn und den Tastsinn, hat die Digitaltechnik jedoch keinen Zugang gefunden. Hier sind schon die ersten Ansätze sowas von plump.
Stellen Sie sich ein Konzert vor, bei der ein bekannter Organist, der 6-8 Stunden täglich übt, über eine Midisteuerung ein aufgenommenes Werk vorspielen lässt. Nach dem Konzert kommt ein Midi-Freak auf ihn zu und sagt: “ Hab gleich gehört, Sie haben Cubase 8.124 verwendet, da ist dieser und jener Effekt noch nicht implementiert. Sie hätten das Update auf 8.128 nehmen müssen, das kommt besser rüber.“
Über die Technik schafft sich halt der völlige Kulturbanause Zugang in die heiligen Hallen der hohen Kunst. Oder meint es zumindest. So wie im Schach heute jeder Anfänger via Computer dem Weltmeister meint Ratschläge geben zu können. Nur allein am Brett wird er eben wieder auf sein Anfängermaß reduziert.
Der Technik-Nutzer humpelt Tag und Nacht den Updates hinterher. Und das sind Dinge, die er grundsätzlich nicht gestalten kann. Das ist Konsum in Reinform. Während der Musiker an sich selbst arbeitet, also eine Selbstwerdung und Selbstfindung betreibt.
Daher mein Credo: Werdet Musiker, Künstler, Maler, Dichter – und wenn es sein muss, benutzt auch Technik dazu. Notwendig ist sie letztendlich nicht.
Mit besten Grüßen,
gwm

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Griechenland oder die Freiheit

Versteht einer das öffentliche Gekreische um Griechenland?
Europa ist eine Staatengemeinschaft, die nicht einer Ideologie verpflichtet sein will, sondern die reiner Ökonomie folgt. Die Kirche war vor der Franz. Revolution das letzte große Metagemeinschaftsprojekt, das einer Ideologie verpflichtet war. Die Blöcke OST und WEST noch kleinere Absprengsel davon. Doch in Europa hat Ideologie nach 1933 keinen guten Geschmack mehr. Die Postmoderne predigt Individualismus.
Heute trägt jeder die eigene Religion und Ideologie in seiner Westentasche, beliebig , austauschbar, sehr flexibel. Auch dies ist ein Grund warum man im Westen einer solchen Ideologie oder »Kirche« wie der des Islam mit Unverständnis entgegentritt.
Dass aber diese Grundhaltung Europas, nur ökonomischen Prinzipien zu folgen, zusätzliches Fehlverhalten mit einschließt, sehen wir an zwei Geschehnissen der letzten Monate.
Russland wird mangels Respektverhalten, vor allem aus Europa, aggressiv und kriegerisch, will sich mehr im äußersten Osten engagieren. Das ist eine Form von Eitelkeit und verletztem Stolz, der man mit wenig Geld, wenn schon Ökonomie gesagt sein soll, beikommen könnte.
Griechenland fordert Moral, also Ideologie, menschliche Wärme. Will Wahlversprechen wahrmachen, was deutsche Politiker entsetzt. Denn Wahlversprechen sind hierzulande eben Versprechen und keine politische Realität, wie Herr Schäuble pragmatisch verkündet.
Auch hier kündet ein verletzter Stolz, Demütigung, Eitelkeit, von Handlungsbedarf, der zunächst einmal ohne Geld befriedet werden kann.
Die Überheblichkeit unserer Techno-Bürokraten wird das allerdings nicht zulassen.
Man scheint in Deutschland die Frühromantik vergessen zu haben. Oder haben die deutschen Oberlehrer, die zu allen Zeiten im wahnhaften Rausche Hölderlins Hyperion lesen ließen und selbst zitierten, kein Wort davon verstanden. Trennen wir Realität von Wort und Papier, wie es heutzutage jeder gesunde Pfarrer und Missionar zu schwätzen weiß, verlieren wir exakt das, was die europäische Kultur bisher auszeichnete. Feine Höflichkeitsformen, als Erbe der Aristokratien. Sich an Ethik kompromisslos gebunden fühlen.
Im Hyperion, diesem wundervollsten Werk deutscher Dichtung, wird der Freiheitskampf der Griechen in hymnischem Stil besungen. Ein Freiheitskampf, der genauer betrachtet während der 400 Jahre unter osmanischer Herrschaft, später, 1821 bis 1828 gegen die Türken mit finaler Unabhängigkeit stattfand. Ein Volk das nahezu 2000 Jahre immer nur von anderen beherrscht wurde, findet sich.
Dabei war ein wesentliches Ziel die Abkehr von der byzantinischen Kultur und eine Hinwendung zur griechischen Antike. Ein Prozess, der die Griechen wieder an Europa annäherte und Abstand vom Orient gewinnen ließ.
Diese Identitätsfindung der Griechen fand rund 40 Jahre vor der deutschen statt. Die letztere war allerdings durchs preussische Offizierkorps gesäumt, was Europa und der Welt zwei verheerende Kriege verabreichen sollte.
Man sollte heute den Hyperion lesen, um einen klareren Blick auf Griechenland zu gewinnen und die eigenen Stimmungen besser kontrollieren zu können.
Rückerinnerung an die eigene Jugend seien uns gewiss, in der Art : »Wie doch das unerfahrne Herz so klug ist, wenn es liebt!!
Mögen die neuen Griechen in all ihrer Unerfahrnheit auch auf Klugheit anderer stoßen.
gwm 31.1.15

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Midi+Technik und anderer Kram

Vor einigen Tagen wurde ich unschön angepinkelt, mit der Meinung, ich würde unserer Zeit nicht gerecht werden, die doch solch ungeheuren Reichtum an Schöpferkraft mit sich brächte, in Form von Technik. Und es sei nur allzu angebracht, dieses mein Credo gegen die MIDITECHNIK (zu finden in https://www.youtube.com/watch?v=QQy-5Zn28g8) zu überdenken. Buße zu tun und in den mainstream einzuschwenken, „alles ist in Ordnung, außer vielleicht Putin“. Nun, ich habe hier mit einigen Worten meine Erfahrungen der letzten zehn Jahre zum Thema niedergelegt. Und ich war und bin, so absurd das auch klingen mag, als totaler Computerfreak, entschiedener Gegner jener Anbetungszeremonien um Technik und Wissenschaft, weil ich den Büchern Günther Anders „Die Antiquiertheit des Menschen“ Band I und Band II, mehr Glauben schenke, als dem ganzen Heer heutiger Scientisten.
Meine Erfahrungen sind recht einfach: Information und Technik ja, aber nur in dem schallgedämpften Raum des Gelderwerbs und der Spielschulden, nicht aber im ästhetischen, künstlerischen, musikalischen Wirkungsbereich. Musik und Kunst sind Räume des Glaubens und der höchsten Lebensformen: hier ist kein Raum für robots. Hier meine stichwortartigen Argumente:
1. Tonaufnahmen sind Abbildungen von geschehenen Konzerten oder anderen Darbietungen, bei denen in der Regel mit naturtonerzeugten Klängen Musik dargeboten wird. Kein Mensch würde auf die Idee kommen die Abbildung einer Landschaft mit dieser gleichzusetzen. Bei Musikaufnahmen geschieht dies aus dem ganz einfachen Grunde, weil überwiegend „recordings“ konsumiert werden, ohne überhaupt noch „die Landschaft“, nämlich das Naturtoninstrument zur Kenntnis zu nehmen. Ein Grundfehlverhalten unserer Konsumgesellschaft.
2. Bei der Vorführung einer Midiaufnahme sitze ich zwar noch vor „der Landschaft“, aber über der dargestellten Musik wird der Schleier eines Rasters gelegt, das genau festlegt, wieviel Zeit jede Note beanspruchen darf. Eine groteskere Verulkung von Musik gibt es nicht. Denn gerade das menschliche-organische Maß wird hier ad-absurdum geführt.
3. Musik geschieht indem man musiziert. Wie oben schon gesagt, hat unsere Gesellschaft ein Problem, indem sie Konsumieren mit Aktivismus gleichsetzt. Das funktioniert in der Kunst nicht. Hier nämlich ist Kreativität gefragt. Das darf sich zeitweilig an Technik, Virtuosität usw. erfreuen, in der Regel aber meint Kreativität das tiefere Eindringen in den ästhetischen Gegenstand. Nur Kulturen, die auf diesem Feld Großes geleistet haben, erfreuen uns heute noch mit Ihrer Kunst. Über die Technik des 19.JH lachen wir uns heute eher halbtot, während alle Kunst der Romantik uns immer noch tief beseelen und erleuchten kann. Und wie können wir lachen über ein  10-Jahre altes computergeneriertes Musikstück.
4. Maschinen sind dazu da, dem Menschen über einen begrenzten Zeitraum Hilfestellung zu leisten. Das geschieht meist dort, wo stupide oder kraftzehrende Arbeit geleistet werden muss. Auch wo höchste Präzision von Nöten ist oder Rechenleistungen benötigt werden, die der Mensch als organisches und emotionales Wesen kaum bewerkstelligen kann. Als Schachspieler ist mir seit zwanzig Jahren klar, dass der Computer unschlagbar gut in der Berechnung von Varianten ist. Aber in allen Bereichen der Ästhetik hat die Rechenmaschine total versagt auf allen Ebenen. In zwanzig Jahren redet kein Mensch mehr von Photoshopkunst oder gar von computeranimierter Musik. Die Hässlichkeit, die Elektroneninstrumente und Computer hier eingebracht haben, und die zur Flachköpfigkeit in Kirchen und Musiksälen geführt haben, ist bester Zeuge dafür, dass ein radikaler Wandel hier unerbittlich eintreten wird.
5. Ich erinnere daran, dass alle großen Komponisten der 2.Hälfte des 20.JH mit elektronischen Klängen experimentiert haben, aber keiner (von Stockhausen bis Ligeti) hat es lange damit ausgehalten. Seitdem alle Welt mit dem Computer komponieren will, haben wir nur noch mainstream-Zeugs, dessen Banalität man nicht lange aushalten kann.
6. Die Orgel ist das größte Instrument und das dringend auf technische Entwicklungen angewiesen ist. Man sollte allerdings nicht den Fehler machen, alle Entwicklung nur noch unter technischen Gesichtspunkten zu sehen. Ich habe vor zehn Jahren einen ganzen Katalog an Vorstellungen eingebracht, welche klanglichen Entwicklungen der Orgel gut täten. Denn schließlich ist die Orgel auch das einzige klassische Instrument, das sich immer weiter entwickelt hat. Was uns aber fehlt sind Künstler, die Ansprüche an die Orgel stellen.
Die Zeit heute ist nicht reif für Weiterentwicklungen in der Kunst. Das wird sich ändern. Ich werde das vielleicht nicht mehr erleben. In jedem Falle wird es eine Kunst jenseits von Technik und Wissenschaft sein – Gott sei Dank. gwm Nov2014

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