Der große Pan schweigt

Ist Orgelmusik ohne Metaphysik denkbar?
Die verunglückte Ästhetik des Cameron Carpenter.

Zwei Erscheinungen der letzten Tage geben mir Anlass über die Stimme des großen Pan ein paar Gedanken zu verlieren. Es sind eigentlich Zeiten, in denen man lieber schweigen sollte. Nämlich dann, wenn „barbarisches Stimmengewirr“ herrscht, ist das leise Selbstgespräch zu führen, auch auf die Gefahr hin, das man abgeführt wird.
Die Griechen waren die Hintersinnigsten, wenn es um Mythologie ging. Hier schufen sie Erhabenes.
Hier räumten sie Pan eine besondere Stellung ein, dem Gott des Waldes und der Natur.

Wir Orgelbauer wissen natürlich, dass die Panflöte umgestülpt und mit verlängerten Fingern (Mechanik) sowie extra breiter Zufuhr des göttlichen Atems (Wind) unsere Orgel ergibt.
Der Gott der Musik, des Tanzes und der Fröhlichkeit konnte aber auch umschlagen und panischen Schrecken auslösen wenn seine heilige Mittagsstunde gestört wurde. Und hier sind wir bereits beim Thema.

Nur der Mensch ist in der Lage die Ruhe der Natur und des Waldes zu stören. Und er tut dies seit der Industrialisierung in ungeheuren Maßen. Die Panik, die darauf folgt, äußerst sich heute wie vor 2000 Jahren in Endzeitstimmung, Auflösung, Apokalypse. Das Ohr, das Organ der Angst, wird überstülpt mit Kopfhörer, mit Technik, um dieser Angst nicht gewahr zu werden. „Lass bloss die Glotze laufen, sonst werd ich noch irr.“
Der große Gott Pan, schweigend steht er da, den ewig angehaltenen Ton, den nur die Orgel erzeugen kann, als Drohung in der Hinterhand, oder wie ihn die spätere römische Antike mit Ovid und Plutarch darstellen wollte in der Formel „der große Pan ist tot“, auch als Drohung gedacht, das soll mein Eingangsbild sein zu der nachstehenden Kritik an gegenwärtigen Tendenzen.

So erläutert der Philosoph Peter Sloterdijk in „Der ästhetische Imperativ“ in dem Kapitel „Wo sind wir, wenn wir Musik hören?“, dass der Mensch in seiner ersten Wahrnehmung von Welt nur das Ohr zur Verfügung hat. Er hört den Herzschlag der Mutter bevor er die Welt sieht. Die beiden Zustände „Hören“ und „Sehen“ sind die grundsätzlichen Erfahrungen die der Mensch an sich wahrnimmt. Beim Sehen haben wir die Welt vor uns (Subjekt-Objekt), beim Hören sind wir unmittelbar involviert in der Welterfahrung, wir sind mittendrin, Teil des Spektakels. Das räumliche Gegenüber der Sehwelt, die ursächlich für die Trennung von Welt und Subjekt ist, entfällt. Der Mensch wird im Hören Teil der Gottheit, der Ganzheit. Mit dem Auge steht er immer vor einem Teil der Welt, vor einer Landschaft, vor einem Bild.

Seit Sokrates haben wir eine Metaphysik die der Augen-Ontologie unterliegt, während Philosophen wie Schopenhauer und Nietzsche „das in der Welt-Sein“ als akustisches Grundphänomen erkannt haben. Erkennbar auch an dem: „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum“ von Friedrich Nietzsche.
Der griechische „blinde Seher“ Teiresias (zu finden u.a. in der Ödipus-Tragödie) wäre eine Figur die neben ihrer magischen Ausstrahlung tief in einer Klangwelt verortet war, mit der Auffassung: alles Wesentliche hört man. Oder wie oben bereits angedeutet: Gott hört man, man sieht ihn nie! Licht ins Dunkel zu bringen war seine Aufgabe, und das konnte er nur dank seiner Ohren.

Diese Voraussetzungen der Hörwelt ans „Wahre“ zu rütteln, und nun sind wir wieder bei der Orgel, war der Grund, dass um 1380 die Orgel Zugang zu den Kirchen schaffte. Man stelle sich nur mal einen Halberstädter Bauer vor, der wie gewohnt eines Sonntags in die Kirche kam und er urplötzlich einen stehenden Dauerton von der Westempore zu hören bekam. Wie muss dieser Mensch in panischen Schrecken verfallen sein, als er diese „Stimme Gottes“ vernahm, die er unmittelbar zu verstehen verstand. Alle Sünden wurden ihm schlagartig bewusst, der Glaube am Ende verfestigte sich, da er mit Gott einig sein konnte, er hat ihn deutlich genug gehört.
Die mittelalterliche Priesterkaste wusste sehr wohl diese symbolische Stimme Gottes zu vermarkten. Die kirchenmusikalische Entwicklung von hier an bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs gibt genügend Aufschluss darüber, wie formbar die Stimme der Ewigkeit mit dem lux aeternita harmonierte. Noch Max Reger konnte den panischen Schrecken, der ihn ereilte im Jahr 1903 in großartigster Weise in der Symphonischen Phantasie und Fuge d-Moll op. 57 („Inferno-Phantasie“) in Musik fassen.

Sloterdijk erwähnt in seinem oben erwähnten Buch:“(…)man kann nicht vom Hören allein auf wache Innigkeit schließen“ und repetiert seine Frage „wo wir denn sind, wenn wir Musik hören“ . Mein Schluss zu diesem Thema ist, ohne Hören keine Erfahrung der Innigkeit und Seele zu denken kann man nur im Hören. Während das „wo“ eine räumliche Orientierungsfrage ist, die vom Verstand und damit vom Auge gelöst werden muss. Raum ist eine Frage an das Auge, Zeit eine an das Ohr. Seele ist in der Zeit. 20 Milliarden Jahre fallen zusammen in einem Bruchteil einer Sekunde, wenn der Körper tot ist und die Sinne keine Zeit mehr verarbeiten können.
Diese zuvor geführten metaphysischen Spekulationen, vielleicht ist es längst durchgekauter alte Nudelsalat, sind jedenfalls Voraussetzungen , die nachfolgenden Kritik etwas besser zu verstehen.

Die Musikwissenschaft hat zwischen E(ernster) und U(Unterhaltungs) Musik unterschieden, was zweifellos eine seltsame Differenzierung war. Nicht nur die Randbereiche, auch grundsätzliche Musiken wären damit einer Zugehörigkeit verdammt, die weder Komponist noch ausübende Musiker sich je gewünscht hätten. Auch die Auflockerungsübungen der Musikästhetik, die nun die Zwecke dieser Musiken genauer untersucht und dabei differenziert, halte ich für ungeeignet. In einem Punkt allerdings kommt man zurecht, wenn die Motive der Musikerzeuger unter die Lupe genommen werden. So sind ja die Zwecke der Unterhaltungsmusikindustrie rein geschäftlicher Natur, und das beste business ist und bleibt der offene oder unterschwellige Sex, angereichert mit rosaschwülen warmen Akkorden. Dasselbe gilt von der Filmmusik, welche die Optik untermalt. Unterhaltungsmusik soll vor Neuem bewahren, bringt gängige einfältige Lieder in altbekannter Konstruktion, die Kaufhausmusik soll zum Konsumieren animieren. Auch Kirchenmusik heutiger Zeiten kann so gehandhabt werden, dass das Neue außen vor bleibt und irgendwo seichte „aeternita“ mitschwingt.

Tatsächlich authentische Musik können wir nur noch in Form von „Donaueschingen“ oder unter fachbegrenzten Musikern der alten Musiken finden. Aber auch in extremen Formen bei Heavy Metal und vielleicht bei Punk, wo das Leben einzelner Hörer oder Musiker diesen Musiken untergeordnet wird, scheint tiefgängigeres Hören anzustreben. Der Hörer, der nicht musiziert, der sich nicht mit seinem ganzen Leben solchen Musiken unterwirft gerät in die Gefahr zum Halbling zu werden, der auf irgendwelchen Altären von Wirtschaftsunternehmen geopfert wird. Dieser Hörer, und ich würde sagen, es handelt sich um 95% aller Musikkonsumenten, er ist der Optiker, der manchmal hört, meist nie tief genug reinhört und selten mal über sein Ohr nachdenkt. Über diese Scheinhörer reden wir hier nicht, sondern ich möchte hier über den tief in einer Art Vorgeburt verankerten Hörer reden, der das Herz der Großen Mutter schlagen hört und damit die Welt des Pan und seine Natur ursprünglich wahrnimmt. Musik muss transzendente Räume betreten wollen, für Bequemlichkeiten haben wir kein Organ außer unsere Faulheit.

Lassen Sie mich nun zum zweiten Teil meines Blogs kommen, der die gegenwärtige Praxis von Kunst, Kultur und dem Verschwinden von Religion am Beispiel des Virtuosen Cameron Carpenter kommentiert.
Musik, dies habe ich im vorausgegangen Teil versucht anzudeuten, zeigt andere Wege zur Welterkenntnis. Wir sind im Hören näher der Transzendenz als im Sehen. Wir erspüren beim Musikhören Horizonte, die uns Höheres erahnen lassen. Hören ist also unmittelbarer mit Religion verwoben als das Sehen. Aber auch der unreligiöse Mensch kann die hier besprochene Transzendenz erfahren wenn er nur will und wenn er sich von der Oberfläche der oben geschilderten zweckhaften Effektenmusik fernhält.

Der Verlust von Religion wird in unserer unmittelbaren Gegenwart mit Technik aufgefüllt. Technik wird sozusagen Neue Religion. Die Priesterkaste des Mittelalters wird heute durch die Maschine repräsentiert. Das, was die Maschine sagt ist gültig. Die Magie der Welt schrumpelt zusammen auf Smartphone, Tablet, Laptop, deren Zauber verhüllt ist durch den Schleier des Ingenieurs und Informatikers.
Der normale User hat keine Ahnung wie das Zeug funktioniert und freut sich diebisch, wenn er mal bei einem iPhone die Batterie wechseln konnte. Dieses mittelaltere Unwissen führt zum Glauben. Zum Glauben an die Technik und an den Techniker der an die Stelle Gottes tritt. Die Magie der Technik überwältigt uns.

Ein Interview abgedruckt in der Süddeutschen Zeitung mit dem „Genie“ Cameron Carpenter, das allerdings beim zweiten und dritten Durchlesen eher an ein sadomasochistisches Unterwerfungsritual ausartete, indem die aus Halle stammende Studentin Juliane Liebert sich einem als Mephistofeles gebärdenden Helden an die Brust warf, ihn befragt und zärtlich jede noch so unbedeutende Phrase ihres Helden ins Gedruckte transferierte, zeigt summa summarum die belangloseste Oberfläche und Flachköpfigkeit, die ich so noch nicht von Carpenter gehört und erwartet hätte. Im Endeffekt haben wir den muskelbepackten Sportmusiker vor uns, der von seiner narzistischen Hochglanzeitelkeit derart verblendet ist, dass er in der Tat Musikdarstellung mit einer olympischen Disziplin verwechselt. Und das wird selbstverständlich von seinem Hörerpublikum, das Informationen aus Facebook und der daily soup bezieht, das völlig gleichberechtigt die „Spiele“ im Zweiten neben einer CD „All you need is Bach“ en passent konsumiert, auf allerniedrigstem geistigen und kulturellem Niveau herabgesetzt. Schade auch, dass der unselige Beitrag von Frau Liebert nicht von Lektoren der SZ gegengelesen wurde.
Wie Sie richtig aus diesen Zeilen herauslesen, habe ich kein großes Interesse bekommen, diesen Bach des Cameron Carpenter auf meine Ohren loszulassen.
Zunächst spielt es keine Rolle ob die Darstellung dieser Musik durch höchstem technischen Drill und Disziplin geschieht wie wir das in der Orgelmusik bisher nicht gehört haben. Wichtig ist zunächst allein die Motivation mit der Musik gemacht wird. Wollen wir einer von äußerer Selbstbespiegelung getriebener Plastikfratze huldigen, die zwei Stunden Zeit fürs Makeup und Haartracht vor dem Konzert verbringt, oder sind wir auch in der Lage die Metaphysik eines bairischen Hinterwaldorglers zu erkennen, dessen Technik zum Himmel schreit uns aber in einen Zustand der Beseeltheit verbringen kann. Ich werde nie vergessen, als ich bei einer Orgeltagung in Bologna, die vorgegebenen Wege verließ und in einer Seitenstraße eine kleine Kapelle entdeckte, wo die Orgel (völlig verstimmt) ertönte. Aber in der Kirche, in der ich alleine saß, ein Zauber empor stieg, der mich bis heute, über 40 Jahre nach dem Geschehen immer wieder erinnern lässt.

Hier bei Carpenter also genau das Gegenteil von solch einem Sprung ins Unerwartete, da wird die werbetechnisch aufgemotzte Form grotesk übersteigert, man will verkaufen und ist ausschließlich an Kaufstatistik interessiert. Hier haben wir blanken Unterhaltungspop mit dem Markenzeichen „Bach“. Wirklichkeit wird festgemacht an harten Verkaufszahlen. Was interessiert hochgedampfter Weihrauch vor einer ausgebluteten Religion.
Im Interview verweist Carpenter auf seine „Orgel“, die in Wahrheit eine Imitation einer Orgel darstellt, die das „Genie“ darstellt und ist dabei genau dort, wo wir die Zukunft der Musik angesiedelt glauben. Der Computer wird irgendwann seinen Meister übertrumpfen an Schnelligkeit und Trillerwirbel. Er wird irgendwann Carpenter auf den Platz des herausgeputzten Affen verweisen, der nur noch wegen seiner Frisur, seiner Orgelstiefel und Extravaganzen am Spieltisch sitzen bleiben darf.

Was aber unterscheidet die Orgel von ihrer Imitation, der elektronischen Klanggestaltung?
Zunächst einmal ist der Naturtonklang mit einer Masse an Faktoren behaftet, die kaum über einen Lautsprecher wieder gegeben werden können. Es handelt sich nicht nur um die Geräusche, Teiltöne, Frequenzumfang Raumverschiebungen der diversen Pfeifen, um die Dynamik die ein solches Heer an Pfeifen durch die Atmosphäre des Raumes, des Klimas und anderen Faktoren verändern. Der entscheidende Grund für die nicht zu überbietbare Klanggestalt aller Naturtoninstrumente und im Besonderen der Orgel ist ihre Individualität die mit der Aura der Umgebung zusammenhängen. Außerdem kommt hinzu, dass wir bis heute nicht wissen und keine Wissenschaft der Welt wird es je auf den Punkt bringen, warum Instrumente im Alter an Klangreichtum gewinnen. Also wie ändert sich die Materie bei Instrumente die lange und gut gespielt werden.

Es ist klar, dass ein von seinen Eitelkeiten angetriebener (und auch von großer Masse akzeptierter) Künstler wie Carpenter sich mit diesen Dingen nicht beschäftigen kann, weil sie nicht in seinem Machtbereich liegen.
Mein wesentlicher Kritikpunkt aber ist nicht die Person Cameron Carpenter, der wie jeder Star seine Allüren haben mag. Meine Kritik gilt der Überantwortung der menschlichen Werte an die Technik. Dabei unterscheide ich nicht die Technik, die der Mensch selbst beherrscht indem er Sport oder spritzige Musikdarstellung beherrscht oder ob Technik an die Maschine delegiert wird.

Ursprünglich deuteten die Vorsokratiker den Begriff techne als Handwerkerkönnen. Der Begriff hat sich über die Jahrhunderte verändert. Heute zu Zeiten der Spezialisten kann man selbst in kleinsten Handwerkbetrieben diesen Begriff nicht mehr in unschuldiger Form anwenden. (…der hier macht die Holzarbeiten, jener Lötet, dort wird Zungenintonation und hier werden die Labialen abgehandelt, im Büro haben wir einen Zeichner, einen Kalkulator, einen der die Verträge unterzeichnet, ja und dann haben wir noch unser Montage und Wartungsteam etc…)
Technik schleppt im Gefolge immer ihren Mühlstein hinterher, oft erst nach Jahrzehnten erkennt man, dass der Nachteil den Vorteil überwiegt. Das schöne Beispiel von den Atomkraftwerken, die uns 30-40 Jahre großartige Dienste leistet und in der Folge dann Millionen Jahre ihre tödlichen Strahlen abgeben, ist wohl das krasseste Beispiel für troglodytische Handlungsweisen.

Bei der Kunst sind grundsätzliche Handwerkertechniken notwendig, wird das Maß aber überschritten gerät das Kunstobjekt in eine Form von Sterilität, wie wir das zum Beispiel bei total durchintonierten neuen Orgeln immer wieder hören können. Bei durchtrainierten Virtuosen kommt rasch der Anschein der Gefühlskälte auf.
Die Delegation der Verantwortung an den Computer nimmt den Menschen nicht aus der Pflicht Sorge zu tragen. Dafür aber entstehen neue Ängste dank der Undurchsichtigkeiten die Computer per se zu besitzen scheinen.
Ich rede hier nur von Kunst und Kultur. Man sehe sich den Müll an Bilderfluten an verursacht durch Photoshop gestylte Grafiken, die manch einer als „Kunst“ zu titulieren wagt und es gehen schlagartig die Lichter auf, wie verdorben wir bereits durch tausende vorgeschaltete Filter in Musik- und Bildkunst sind und was unsere Enkel und Urenkel erwartet.

Dagegen will ich Einspruch einlegen.

gewalcker@t-online (aus Kingussie)
(sorry, dass es so lange geworden ist, aber wir Orgelbauer leiden an der Langeweile…)

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