Mängelbehaftete Tagebuchauszüge 2014

mängelbehaftete Tagebuchauszüge
eines auf Reise befindlichen Orgelbauers Juli-November 2014
Bruchstücke zum Zwecke der Verinnerlichung

10.Juli 14
Maschinen sind nicht auf den Aufbau und die Erhaltung ihrer eigenen Struktur ausgerichtet, sondern auf Herstellung (Erhalt und Verkauf) von Produkten. (Luhmann)
Lebende Systeme wie Körperzellen sind Systeme, die von der Eigendynamik her auf Fortsetzung ausgerichtet sind (autopoiesis). Die Welt als ein sich selbst gebärendes Kunstwerk (Nietzsche)
Würde man solcherlei „Selbsterhaltung“ einer Maschine in Form eines Programms implementieren, sie würde jämmerlich zugrunde gehen. Es würde der Maschine die „Zahl“ fehlen, der Ruf „konsumiert mein Produkt!“, „kauft, verbraucht!“ und damit „z a h l t“.
Diese Not der Maschine auf den zahlenden Menschen angewiesen zu sein, ist ihre Beschränkung.
Der Technokratiker würde andernfalls eine Maschine erschaffen, die im Gegensatz zu ihm, an Religion und Kultur glauben würde, also an Unnotwendiges.
Das Problem bliebe, die Maschine mit Zahlen zu füttern (Programmieren) mit der Aufforderung, nicht an Zahlen zu glauben.
Die Monetarisierung der Welt wäre ohne Maschine undenkbar. So wie Mathematik ohne den Umstand undenkbar wäre, sein Leben „geldgerecht“ einzurichten. (gwm)

12.Juli 14
Wenn man sich durch das Leben pfuscht, ein weinig Reue empfindet und meint, das übrige werde sich schon machen lassen, dann hat man ein für allemal darauf verzichtet. (frei nach Kierkegaard)

Kirchenbesuch: Pathos in einer schwarzgefliesten Waschküche. Nagelneue Orgel mit der Klangfülle einer Gießkanne. In der Predigt schlummert die Dramatik eines Sonntagabend-Tatort. Der Tote ist der Pfarrer selbst. Soviel Entweltlichung in seinen Worten hat er nicht vertragen.
Angriff der Hinterweltler: ja, sogar im Diesseits gibt es eine weitere Welt, aber wichtiger ist die im Jenseits (weil wir den Planeten schon genug versaut haben, brauchen wir es wieder, das Jenseits) gwm

17.Juli 14
Über der Ukraine regnet es 298 Menschen

20.Juli 14
Konfliktgeneigtheit wächst, wenn die Partner ihre Beziehungen intensivieren….
Die moderne Gesellschaft hat die Unterscheidung von persönlicher und unpersönlicher Beziehung radikalisiert. Persönliche Beziehungen werden überlastet (überhitzt), unpersönliche total abgekühlt. (Das Abschlagen eines lebendigen Menschenschädels betrachten wir auf Youtube inzwischen in ausgemachter Kühle, während leichtes Unwohlsein des 58jährigen Sohnes der Mutter schlaflose Nächte besorgen kann) gwm

23.Juli 14 auf einer Zugfahrt
Eine Frau sitzt im Abteil, liest ein Buch, auf dessen Schnitt „Mängelexemplar“ zu lesen ist. Ein Mann geht auf sie zu, schwingt einen knallroten Filzstift und ruft ihr zu: „haben sie wohl billig erstanden?“. Er zieht mit seinem Stift einen dicken Strich über das Wort „Mängelexemplar“.
Ich lach laut auf. Sie entgegnet mit kleiner gewordenen Mausaugen süffisant: „Nun hat es seine alte Wertigkeit wieder erhalten“. (gwm)

28.Juli 14 in Neuwied
Der Wert verweist auf einen Mangel, er ist ein Zeichen für Bedürftigkeit. (…) Denn, dass wir Objektivität und ihren Ausdruck in Theorie und Wissenschaft schützen, ist ja selbst nichts anderes als eine Wertung. Und es ist eine geradezu schwindelerregende Einsicht, dass auch hinter dem Anspruch auf Objektivität nichts anderes als ein letztlich subjektives Bedürfnis steht.
(…) Werte schaffen erst den geschlossenen Horizont, der für das Handeln notwendig ist. Gerhardt – Nietzsche

(im Prinzip ist es so, dass ich für eine Meinung oder Ansicht eine Begründung habe, hinter der wiederum eine weitere Begründung steht, die erneut begründet wird usw. , ein unendlicher Regress, bis ich auf einen grundlosen Grund stoße (Heidegger: Abgrund), was keiner vernünftigen Begründung mehr zugängig ist. Das ist ähnlich den Aporien der Wissenschaften, sie gründen auf nichts Nachweisbarem mehr. Die letzten Dinge schweben frei. Ob wir Solipsisten sind oder nur träumen, ob es eine harte Realität gibt, ob wir konstruieren? – Nichts davon wird man je exakt nachweisen können. Man könnte es sich leicht machen und sagen: „Die Astrophysik konstruiert einen Kosmos, den es nicht geben kann, weil in der Natur keine Mathematik zu finden ist. Es gibt sie nur im menschlichen Hirn. “ Dann aber haben wir das Problem, zu erklären, warum das Flugzeug vorgestern exakt zur geplanten Zeit am geplanten Ort gelandet ist, mit einer gewaltigen Masse an Materie. gwm)

Nach dem Wert des menschlichen Daseins überhaupt zu fragen, stößt, wie Hamlet, immer nur auf das Entsetzliche oder Absurde des Daseins.

Der rational erschlossene Lebenssinn führt in die Absurdität! Gerhardt – Nietzsche

11.Aug 14 Wuppertal
Die tragische Grundstimmung zeichnet alle aus, die angesichts der blinden Notwendigkeit des Lebens dennoch handeln, die sich Ziele und Zwecke setzen, obgleich sie von der Vergeblichkeit aller Zwecke wissen. Gerhardt – Nietzsche

15.August 14 Bliesransbach
Ressentiments kleiner Schreier. Paranoida. Die Kleinheit durch Lautheit sublimieren. Dazu nur einen Ratschlag: kalt werden, kalt werden lassen. Das reichhaltig Belanglose abtropfen lassen. Geschminkte Maskenparade. In seine erklärte Einsamkeit sich zurückziehen. Nicht in einer einseitigen Zweisamkeit aufgehen (ein Du- und Du gegenüber dem TV, oder schwarzer Spiegel iPad, zeige mir mein wahres Gesicht, mein Gänsegeschnatter, das als Chat in Form elektrischer Impulse durch Raumlosigkeit in Räume gelangt, bei denen meine tausend Triebe als „Ich“ gehandelt werden. ) Lass die Sesshaften sitzen, schwitzen und furzen. Mich und meine tausend plus eine Eitelkeit schickst du raus zu den Kühen, die mich gutmütig anglotzen und sagen: aber was für ein Mensch ist das, der schlecht bezahlt über andere denkt ? (gwm)
Das Schöne sei allem heftigen Willen unerringbar. Nietzsche
Die Kunst braucht den Widerspruch. Nietzsche (Der Kitsch braucht Sieglinde Schüffler-Kästermann. gwm)
Der Wille ist das an sich Unauthentische. Nietzsche
Der Mensch trifft in allem, worauf er fühlend und denkend stößt, letztendlich immer nur sich selbst. Nietzsche

18.August 14
Wie einen kleinen Blumenstrauß trug er ein stilles Gefühl der Freude vor sich her. Beinahe zum Greifen, zum Riechen, war dieser Strauß, dieses kleine und beschauliche Glück auf Zeit. (gwm)

18.Oktober 14
Es ist nicht gefährlich, das Fallen bringt dich nicht um…. Traumstimme
Heraklit: Wahrheit ist nichts als eine heroische Illusion
In dieser Illusion kommen wenige Einzelne zu übermenschlicher Größe, gelangen die Kulturen zu ihrer Blüte, die Menschheit aber findet darin nur umso schneller ihren Untergang…..

31.Okt.14
Im Blick auf die höchsten und seltensten Tugenden ist die wissenschaftliche Erkenntnis von lächerlicher Geringfügigkeit. Auf der einsamen Höhe, die das ehrwürdige Exemplar der Gattung Mensch erreichen kann, wird sie gleichgültig. Denn eine am Ideal der Objektivität ausgerichtete Erkenntnis setzt selbst keine eigenen Ziele und verbleibt deshalb im Dienst fremder Wertungen.
Aus diesem Grunde verliert sie für Nietzsche jedes Interesse.(…)
Die Wissenschaft mit ihrer Wahrheit ist nur ein Mittel und nichts selbst schon Zweck. Das was Zwecke setzt und damit Werte schafft interessiert ihn, was Menschen Sinn gibt. Gerhardt

11.Nov.14 (in Schottland)
Du aber bist einer, der mit der Peitsche hinausgeprügelt werden muss. Einer der keine Wärme kennenlernen darf. Der keine Heimat kennt, der sich nicht den biergebrunsten Werten deutscher Fußballgemeinschaften unterwirft. Du darfst nicht im bücherwarmem Stall alt werden!
Peitscht ihn hinaus in die Kälte! (… zu seinem inneren Schweinehund, nachdem er Platz genommen hat zu seinem Kasperltheater am Computer, was er und andere gerne als „Arbeit“ oder „intellektuelle Seelsorge“ bezeichnen wollen)

23.Nov.14
Sich unablässig Sinn zuführen – oder besser nicht unablässig, sondern gelegentlich, Sonntags

24.Nov.14 (in Moyeuvre Frankreich)
Gott vergibt immer, der Mensch manchmal, die Natur nie..- (Franziskus, Papst)

28.Nov.14 Moyeuvre
Das Leben scheint nur aus Widerständen zu bestehen…- durch den letzten großen Widerstand wird es beendet (gwm)

und die Türen des Dunkels aufgehen (Tranströmer)

das Wort war mir zu groß (Hyperion – Hölderlin)

im Baumarkt Brett(1200×300) und Schleifpapier besorgen (gwm)

gewalcker@t-online.de
zusammengefasst am 15.März 2015

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