Ägypten – mit letzter Tinte

Es gab einen Herrn Norbert Lammert in diesen Tagen, der in der Süddeutschen als „der große Demokrator“ bezeichnet wurde, weil er in Kairo dem Parlament einen gläsernen Reichstag übergeben hat. Symbolisch soll es sein. Aber auch seine Hinweise an Revolutionäre und Islamisten sich gegenseitig zu respektieren, scheint man ihm gutzuschreiben.
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Meine persönlichen Erfahrungen der letzten 6 Monate!, ja so lange sind wir nun in Kairo, davon über 3 Monate am Stück, sind mehr und mehr in Pessimismus umgeschlagen.
Wer sie täglich sieht, die Armut, mit der der größte Teil der Bevölkerung geschlagen ist, die Dummheit, mit der ebenfalls ein großer Teil der Bevölkerung in Berührung zu stehen scheint, die Ausweglosigkeit, mit der man diese Ökologie hier in der Stadt brandmarken könnte, die Aggressivität, mit der die armen Leute sich wegen kleinster Kleinigkeiten an die Gurgel fahren, dieser Schmutz und Müll an allen Ecken der Stadt und die Ignoranz mit der Jedermann diesen Nil, der das alles forträumen soll, belädt, all das haben mir meine Begeisterung und meine anfängliche Freude an dieser Stadt und meinem Orgelprojekt hinfort geblasen. Eben weil es da keine Hoffnung geben kann.
Am Schlimmsten noch waren meine schwarzen Bilder, wenn aus Deutschland Nachrichten kamen, die uns zeigten, mit was sich die Deutsche Presse derzeit beschäftigte, was das deutsche Herz für Problemchen hatte, die kuriert werden mussten. Das tat man dort in schönen und belanglosen Fernsehdiskussionen für eine kopfnickende Herde.
Da griff ich zur stärksten Droge, die mir zugängig war, zum Ebook des „Harald Welzer – Klimakriege“ , ein deutscher Schock auf den ägyptischen draufzusetzen, also gewissermaßen die miserable Stimmung in Kairo mit einer noch miserableren Stimmung, die einem bei dieser Lektüre kommt, hinauszutreiben. Und damit das Leben wieder im nihilistischen Sinne erträglich zu machen. Klar war, dass als weiteres Begleitprogramm die über itunes-U vertriebenen Lesungen über Nietzsches Nihilismus parallelisiert werden mussten.

Wer ein solches Schockprogramm über Wochen durchhält, der wird zweifellos von den gegenwärtigen Kleinheiten des alltäglichen Kairolebens geheilt sein. Unnötig zu sagen, dass die Aggressionen in – und außerhalb des Leibes zunehmen und auch sonst alles sich abspielt, als würde die Welt völlig verrückt werden.
Was also ist Wahrheit? Was darf man sich antun, welche Nachrichten darf man sich zuführen und welche darf man glauben, welche muss man ignorieren? Wo muss der Ausgleich stattfinden?
Die große Seelenfrage, die wir vielleicht bei Epikur, Marc Aurel, Epiktet oder Boethius anständig und antik beantwortet finden, wir werden keine leichte, glasklare Antwort mehr finden in der Gegenwart, noch weniger in der Zukunft, weil es dort keine Weisen und keine Seinsweisen für Weise mehr geben kann.
Die Weisheit ist endgültig verschwunden.
Probleme sind da, um gelöst zu werden, technisch gelöst zu werden. Getrübtem Lebenssinn hingegen kann man vielleicht etwas Ästhetik zuführen, Bach oder New Age, aber Lösung oder gar Erlösung, ein Lieblingswort dieses Nietzsche, hat nach dem Tode Gottes keinen Sinn mehr.
So also kehre ich irgendwann heim nach Deutschland, gepeinigt mit Bildern aus Kairo, Begriffen aus „Welzer“, gebeutelt und geschlagen mit Nietzsches Nihilismus und dem Wissen um Arabia, das auf etwas zutreibt, das mir schwärzer als das dunkelste aller schwarzen Löcher vorkommt.
Und in einem noch dunklen, aber greifbaren Schatten, erkenne ich Europa, das ohne Not alle Chancen der Zukunft aus der Hand legt.

gerhard@walcker.com 7.4.12

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